Spiel als Lebensgrundform für Kinder und Erwachsene

Spiel als Lebensgrundform für Kinder und Erwachsene

Die Veranstaltungen des Karpatendeutschen Vereins mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen machen auf das Spiel als Urform des Lebens und Lernens aufmerksam. Das Spiel ist in allen Epochen und Kulturen auf der ganzen Welt, in sakralen Handlungen oder auf den Hinterhöfen zu finden. Spielen und Lernen gehören in vielerlei Hinsicht untrennbar zusammen. Das Spiel erfüllt eine lebenswichtige Funktion für den Einzelnen und die Gemeinschaft. Es gilt, das Spiel neu zu entdecken.

Im digitalen Zeitalter, das von weltweiten Umbrüchen geprägt ist, benötigen Menschen Wissen und Fähigkeiten sowie ein Denken, Fühlen und Handeln, das ihnen hilft, Orientierung zu finden und glücklich zu sein. Nicht nur die neue Medienwelt, sondern auch Kriege, wirtschaftliche Unsicherheit sowie Sorgen um Umwelt und Klima beschäftigen unser Denken. Hinzu kommt die Wahrnehmung, dass unsere Gesellschaft Schwierigkeiten hat, den Anderen, besonders marginalisierte Gruppen, zu achten und anzuerkennen.

Bedeutung für den Menschen

Die Familie des Pädagogen und Bildungspolitikers Hellmut Becker (1913-1993) diskutierte ihre Erfahrungen über die Bedeutung des Spiels für den Menschen. Sie fand zusammengefasst folgende Erkenntnisse: Die Unfähigkeit zum Spielen und die Angst vor dem Spielen können eine lernende Gesellschaft in eine armselige, verkümmernde Gemeinschaft verwandeln. Menschen sollten sich sowohl im Beruf als auch im persönlichen Leben befähigen, die Angst vor dem Spielen zu überwinden, mehr zu spielen und anderen dabei zu helfen. Das Bedürfnis zu spielen wird durch die Angst verdrängt, weil das Zwangssystem gesellschaftlicher Organisationen die Spielmöglichkeiten des Menschen fortwährend einschränkt. Diese Erkenntnisse weisen auf die fundamentale Bedeutung des Spiels für den Menschen hin.

Auch die Bindungsforschung lehrt: Die im Menschen schon vor der Geburt angelegten Gegensätze von Freiheit (Autonomie, Eigenaktivität) und Gebundenheit (Bindung, Sicherheit) sind auf einen Spielraum angewiesen, der die Bedingungen für die individuelle Entwicklung schafft. Das Spiel verbindet die Widersprüche des rechnenden und zergliedernden Verstandes zu einer Einheit in der Vielheit, in der sich das Wesen jeglicher Schöpfung zeigt.

Die Würde des Spiels verstehen

Bekanntlich gibt es kultur-, evolutions-, lern- oder psychotherapeutische Theorien über das Spiel. Mit dem Pädagogen, Staatstheoretiker und Theologen Friedrich Schleiermacher (1768-1834) gehe ich davon aus, dass die Spielpraxis ihre eigene Würde hat, unabhängig von der Theorie. Schleiermacher zufolge wird die Würde des Spiels in der Kunst des Begegnens gepflegt, die aus der „Idee des Guten“ entspringt. Diese Idee hatte auch Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782-1852), der Begründer des Kindergartens, im Sinn, wenn er sagt, dass „die Quelle alles Guten im Spiel liegt“.

Meine Forschungen zeigen, dass Fröbel aus dem innersten Kern seines Wesens heraus Pädagoge war. Er hatte eine „entfaltende Erziehung“ im Auge und sprach von einer das ganze Leben umfassenden Erziehung im Spiel und durch das Spiel. Durch frei- und selbsttätiges Spiel entwickeln Kinder und Erwachsene ihre Fantasie sowie ihr sinn- und wertbezogenes Denken und Handeln. Fröbel lernte sein Leben lang von Kindern. Seine lebendige Sprache ist dem Kind nahe und geht von dessen Bedürfnissen aus – nicht von definierten Begriffen.

Fantasiereiches Spiel ermöglichen

„Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. Fantasie umkreist die Welt“, erkannte Albert Einstein (1879-1955), der bekannteste Physiker der Neuzeit. Diese Erkenntnis trifft besonders auf das Kind zu, das von Beginn an seine Fantasie und seinen Forschergeist zusammen mit anderen Menschen entwickeln will. Im Spiel des Kindes und des Erwachsenen tritt eine Willenskraft hervor. Spielforscher haben weiter erkannt: Spiel als ureigene Lebensform ist der Wille zum Leben, den jeder Mensch tief in seinem Herzen pflegen will. Im Spiel begegnen sich Menschen. Das Ich des Einen entwickelt sich am Du des Anderen. So kann sich in kleinen Lebensgemeinschaften eine einladende Welt entwickeln.

Dr. Albert Schweitzer

Wiederentdeckung des Spiels

Gerald Hüther plädiert für die Wiederentdeckung des Spiels, für mehr Kreativität und Lebensfreude in Familie, Partnerschaft und Beruf. Er bestätigt durch biologische und philosophische Erkenntnisse das bekannte Wort des Dichters Friedrich Schiller (1759-1805) über die ästhetische Erziehung: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Das Spiel richtet sich an ein „Du“ und schafft so Gelegenheit zum gemeinsamen Tätigsein, zur Partizipation. Im Spiel erleben und achten sich die Menschen als gleichwertige Partner. Sie versuchen, aus der Beziehung heraus mit ihren Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen etwas Gemeinsames zu gestalten. Sie spielen miteinander, lernen, sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen und können gemeinsam neue Entwicklungsmöglichkeiten entdecken. Insofern spricht Hüther von „Ko-Kreativität im Spiel“, weil aus der sozialen Beziehung das gemeinsame Lernen gelingt und etwas Neues entsteht.

Beispiel aus der Praxis

Ko-kreatives Spiel praktizierte der polnische Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak (1878-1942) mit den Kindern seines Waisenhauses. Korczak schuf für seine Kinder, die hungerten, seelisch schwer litten und voll unerfüllter Sehnsüchte waren, durch gemeinsames Singen und Spielen (Theaterspielen) einen Lebensraum der Freude und Zuversicht. Er gab ihnen im Warschauer Ghetto eine Herberge des fröhlichen Lebens, scherzte mit ihnen und organisierte ein Konzert, während draußen der Holocaust tobte. In einer Welt der Brutalität lebte Korczak die Achtung des Anderen. Er tat Gutes – ohne zu überlegen, in wunderbarer Übereinstimmung mit seiner Natur. Er erzählte den Kindern das „Märchen des Lebens: Wenn die Wälder brennen, muss man sich an die Rosen erinnern.“ Korczaks Pädagogik erfüllt das Herz mit Freude, die sich im Tätigsein für andere Menschen verwirklicht. Das erkannte auch ein Student, der nach einem Seminar in seiner Abschlussarbeit über Korczaks Spielpädagogik nachdachte. In seiner Studie hielt er fest, dass Freude ein Zeichen dafür ist, dass der Mensch sein Leben liebt.

Diese Selbsterkenntnis wird beim wissenschaftlichen Eifer oft übersehen: Das, was für die eigene Bildung bedeutsam ist, wird mit Begriffen überfrachtet und dabei wird vergessen, innezuhalten, einen Gedanken auf sich wirken zu lassen, Gefühle unverkrampft zu äußern, die „Logik des Herzens“ zu pflegen, Gutes zu tun und die Würde der Praxis zu achten.

Itzchak Belfer Holocaust
Illustration von Itzchak Belfer, dem Maler des Holocaust, zeigt Korczak mit einem seiner Kinder

Schlussbemerkungen

Gerald Hüther gibt in der von ihm gegründeten Internationalen Hochschule wertvolle Impulse. Hüther geht von der Grundüberzeugung aus, dass die Potentialentfaltung der Menschen nur dann möglich ist, wenn sie sich einander als Subjekte begegnen, sich also nicht gegenseitig zu Objekten ihrer Bewertungen, Erwartungen, Interessen oder Maßnahmen machen. Menschen lernen und bilden sich, wenn sie spielen. Sie stellen eine Beziehung zum Anderen und zur Umwelt her und streben nach Einsicht und Sinn.

Die in diesem Beitrag erörterten Gedanken zum Spiel verhindern Gewalt. Werden sie im demokratischen Rechtsstaat missachtet, so ist dem mit aller rechtsstaatlichen Härte zu begegnen.

Prof. Dr. Dr. et Prof. h.c. Ferdinand Klein