
Das „Herrgottsuchen“ in Ober-Metzenseifen
Dieser Oster-Beitrag von Johann Schürger, den er 1999 schrieb, erschien im Band II der Trilogie „Unterzipser erzählen – Mantaken dazähln“. Die Trilogie gaben Ferdinand Klein, Anna Klein-Krušinová und Aranka Stigloher-Liptak 2020 im Verlag ViVit heraus. Der Beitrag erinnert an das Osterfest in Ober-Metzenseifen/Vyšný Medzev.
Den Abschluss der Fastenzeit bildet die Karwoche. In meiner alten Heimat hieß sie auch die „stille und große“ Woche oder die „Marterwoche“. In der Karwoche forderten die Eltern und Großeltern ihre Kinder und Enkel auf, an der Prozession und am Suchen nach dem auferstandenen Heiland teilzunehmen. Da sich an der „Herrgottsuche“ aber nur das männliche Geschlecht beteiligen durfte, hielt es dies für eine besondere Ehre, dabei sein zu dürfen.
Ich kann mich noch erinnern, dass auch solche dem Geschehen beiwohnten, die damals ihrer politischen Anschauung zufolge nicht zur Kirche hielten. Selbst solche, die keine Kirchgänger waren, folgten der Prozession am Ostersonntag. Wenn am Sonntagmorgen um 4.30 Uhr die Osterglocken dreimal geläutet hatten, ging Jung und Alt des männlichen Geschlechts in die Kirche. Die leitenden Männer der Prozession knieten vor dem Altar nieder und beteten ein „Vater unser“ und ein „Gegrüßet seist du, Maria“; sie sprachen außerdem noch das „Apostolische Glaubensbekenntnis“.
Anschließend formierte sich der Zug. An der Spitze schritten zwei Fahnenträger; auf der einen Fahne sah man das Bild der heiligen Maria, auf der anderen das Bild der heiligen Magdalena, nach der die Kirche benannt war. Hinter ihnen trug der Kirchendiener, flankiert von zwei Bergknappen, das Kreuz mit dem Heiland. Ihnen folgte der Vorbeter, der nach einer Überlieferung aus der Familie Orient stammen sollte. Hinter dem Vorbeter bewegte sich die Prozession nach Altersgruppen geordnet. Wie es seit jeher Brauch war. Die Prozession fand in einem dreijährigen Turnus statt und führte jedes Mal auf einem anderen Weg zur Kapelle im oberen Ort des Dorfes. Während sich im ersten Jahr der Zug von der Kirche die Pfarrgasse entlang zum Feldkreuz bewegte und nachher den Weg auf der rechten Seite hinter den Obstgärten zur Kapelle wählte, ging die Prozession im zweiten Jahr zum Friedhof und auf der linken Seite des Ortes hinter den Obstgärten zur Kapelle. Im dritten Jahr führte der Umzug die Pfarrgasse entlang in den unteren Ort und auf der linken Seite der Gärten zur Kapelle; dieser Weg war der längste und dauerte fast zwei Stunden. Sobald man zum großen Feldkreuz gelangt war, wurden die Fahnen vor ihm gesenkt und die Männer blieben andächtig betend eine Weile stehen. Die Litanei der Prozession hatte, soweit sich der letzte Vorbeter (Josef Stark) noch erinnern konnte, so begonnen: „Erstanden ist der heilige Christ“, worauf die Anwesenden die Worte des Vorbeters singend wiederholten und hinzufügten: „Halleluja, Ehre sei Gott, halleluja!“ Darauf folgte: „Wär‘ er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen. Nun, da er erstanden ist, loben wir Herrn Jesu Christ. Christ soll unser Tröster sein!“ (Die Litanei entsprach einem alten Auferstehungslied aus dem 14. Jahrhundert und war im bayerisch-österreichischen Raum bekannt.)
Wenn die Prozession vor der Kapelle hielt, traten infolge Platzmangels nur ein: der Vorbeter, der Kirchendiener und die älteren Männer, die dem Vorbeter bei den Bittgesängen ausgeholfen hatten. Die Kapelle, in der ein Kruzifix war, stellte das Heilige Grab dar. Nach der religiösen Handlung in der Kapelle trat der Vorbeter vor die Prozessionsteilnehmer und verkündete ihnen: „Christ ist auferstanden“ und alle Männer stimmten freudig in den Gesang mit ein. Anschließend gönnten sie sich eine kurze Rast. Es gab viel zu erzählen, vor allem aber freuten sich alle, an dem „Herrgottsuchen“ teilgenommen zu haben.
Der Rückweg führte mitten durch die Ortschaft. Aber die Frauen warteten schon am Ortseingang auf die Männer. Als diese die Frauen erblickten sagte der Vorbeter: „Jetzt kommen die Weibsbilder daher.“ Dann begannen die Glocken zu läuten und das Geläut begleitete die Prozession bis zur Kirche. Unterwegs sangen Männer und Frauen die Lauretanische Litanei. Vor der Kirche wartete schon der Priester auf die Prozession, die mit dem Gesang des Tedeums und einem Gebet abgeschlossen wurde. Alle eilten dann nach Hause, weil um 9 Uhr bereits die Hauptmesse begann und sie vorher noch die Speisen und Früchte zur Weihe holten.
Zur Herkunft des „Herrgottsuchens“
Das bislang nur aus Ober-Metzenseifen bekannte Herrgottsuchen wirft die Frage auf, woher dieser Brauch wohl stammen mochte oder in welchem Zusammenhang er zu sehen ist, denn bis zum 14. Jahrhundert kannte die abendländische Kirche (wie auch die Ostkirche) nur eine Osternachtsfeier, jedoch nicht am Karsamstag. Erst später wurde nämlich die Vigil vom Vorabend auf den Vormittag des Karsamstags und die nächtliche Osterfeier als Auferstehungsfeier auf den Nachmittag des Karsamstags verlegt.
Wie Dr. Sepp Walter (Steiermärkische Volkskundemuseum Graz, Österreich) in seinem Schreiben vom 9. Februar 1998 mir mitteilte, blieben abgelegene Gebiete – trotz des Verbots von Maria Theresia und ihres Sohnes, Kaiser und König Josefs II. – beim alten Brauch; sie begingen nach wie vor gemeinsam mit den Geistlichen oder ohne sie die Karsamstagsnacht oder die österliche Morgenfrühe mit Prozessionen oder Gebetsandachten. In den Pfarrgemeinden Mooskirchen, Hitzendorf, Stallhofen und St. Johann in der Weststeiermark findet – trotz des erwähnten Verbots – noch heute das nächtliche Maschtasingen (=Marter- bzw. Leiden-Christi-Singen) statt; an der Prozession nehmen lediglich Männer teil. Auch in Murtal ist noch das Greanbeten (Grünbeten) in der Nacht und Morgenfrühe des Ostersonntags erhalten; auch hier zieht man zu bestimmten Kapellen. Ostermorgenbräuche sind ferner im Lavanttal (Kärnten) bekannt; an den Prozessionen beteiligen sich alle Pfarrangehörigen. Damit sind wohl gewisse Parallelen gegeben, aber nicht der Brauch des „Herrgottsuchens“ erklärt, wie er in Ober-Metzenseifen bestanden hat und auch andernorts bezeugt wird.
Im Brauch des Herrgottsuchens spiegelte sich noch die alte patriarchalische Anschauung wieder, der zufolge man der Gestalter der Lebensverhältnisse sei. Er musste die Gnadenkraft Christi suchen, um als Oberhaupt der Familie die Fähigkeit für seine Aufgabe zu erwerben. Deshalb hatte er den Auferstandenen zu finden; das war für ihn eine Lebensnotwendigkeit. Wie der Brauch zeigt, wurde der Heiland auf immer neuen Wegen gesucht. War er gefunden, konnte der Mann mit fester Zuversicht zurückkehren und den am Ortseingang wartenden Frauen, den „Hüterinnen des Herdes“, die frohe Botschaft bringen. „Erstanden ist der heilige Christ! Wär‘ er nicht erstanden, so wär‘ die Welt vergangen… Christ‘ soll unser Tröster sein!“ Im Gegensatz zum Wortlaut der Evangelien suchen Männer den Sohn Gottes. Und sie mussten ihn finden und die frohe Botschaft ihren Familien mitteilen. Somit konnte die ganze Dorfgemeinschaft den Kirchgang in dem Bewusstsein antreten, dass sie von nun an der Auferstandene geleiten und „bis ans Ende der Erdenzeit“ bei ihnen bleiben werde.
Jedem alten Brauchtum liegt ein Sinn zugrunde, jedoch keineswegs vom Verstand ausgetüftelt, sondern aus einer tieferen Wesensschicht entstanden, nämlich aus der „Weisheit des Herzens“ und gegen den Strom der herrschenden Meinung. Die Eingeweihten – oft die „Stillen im Lande“ – kannten den Sinn, d. h. die sinnbildliche Bedeutung solcher Geschehen an bestimmten Festtagen des Jahres. Deshalb übte das Volk im Einvernehmen mit der Geistlichkeit sein Brauchtum mit heiligem Ernst, zugleich aber heiteren Sinnes aus. Sitte und Brauchtum waren ein Kraftquell, solange der Wahrheitsgehalt dieser „Zeichen“ in den Tiefen der Seelen fühlend erlebt wurde. Die Intellektualisierung des modernen Lebens und der stets zunehmende Materialismus ließen aber diesen Kraftquell allmählich versiegen. Wenn man selbst jenes kraftspendende Brauchtum des Herrgottsuchens noch erlebt hat, muss man bekennen, so etwas nie mehr gesehen zu haben; man kann es gar nicht begreifen, sondern muss darüber mit Bewunderung nachsinnen.
Auch die Jünger Petrus und Johannes liefen am Ostersonntag zum Grabe Jesu. Nach Petrus stieg Johannes ins Felsengrab hinab und, obwohl er nur die Leinen Jesu Christi noch vorfand, „sah und glaubte“ er es (Joh. 20, 8), denn er wusste noch nicht, dass Jesu auferstehen werde. Auch den Männern in Ober-Metzenseifen kam es darauf an, die Botschaft der Auferstehung zu glauben und zu bezeugen. Selbst wenn wir heute in Ober-Metzenseifen den Brauch nicht mehr ausüben können, wünschen wir uns hier an unseren neuen Orten von Ostern jeweils so durchdrungen zu werden, dass wir unsere einstigen Erlebnisse in der alten Heimat niemals vergessen. Und unseren Ahnen wollen wir dankbar für das sein, was sie uns auf den Schicksalsweg mitgegeben haben.