Schengen Ortsschild

EU: Heimlich, still und leise…

War etwas? Das mag sich der Eine oder Andere fragen… Indifferenz ist man in Bezug auf Europa heutzutage fast schon gewohnt. Dabei hat sich in aller Stille an Neujahr etwas Großartiges vollzogen. Seit dem 1. Januar 2025 hat die Europäische Union einen weiteren wichtigen Schritt zur Integration ihrer Mitgliedsstaaten Rumänien und Bulgarien unternommen. Die beiden Länder Osteuropas sind dem Schengen-Raum beigetreten. Sie glauben, dass das nichts mit Ihnen zu tun hat? Dann lesen Sie doch bitte den folgenden Essay.

Der französische Politiker Jaques Delors (1925-2023) ist einer der vergessenen Vorreiter der europäischen Integration. Selbst die Liste der EU-Pioniere führt ihn nicht namentlich auf. Dabei ist der Streiter für die fortschreitende EU-Integration der Kopf hinter dem Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992, der Gründungsurkunde der Europäischen Union. Sie stärkte das Europäische Parlament, führte die Unionsbürgerschaft ein, legte die Grundlagen der Währungsunion und vereinte mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Europa auch auf politischer Ebene tiefer.

Als Präsident der Europäischen Kommission kämpfte Delors nicht nur für das Austauschprogramm Erasmus, welches 1987 eingeführt wurde, sondern auch für den Wegfall der Grenzkontrollen innerhalb Europas. Am 14. Juni 1985 wurde in der kleinen Luxemburger Gemeinde Schengen das erste Abkommen unterzeichnet, das die Grundlage der offenen Grenzen in Europa legte.

Erfolgsgeschichte Schengener Übereinkommen

Es dauerte jedoch bis zum 26. März 1995, bis endlich in den ersten Unionsländern die Schlagbäume fielen. Seitdem traten fast alle EU-Länder dem Abkommen bei und seit dem 21. Dezember 2007 erfreuen sich auch die Bürger der Slowakei der EU-weiten Freizügigkeit ohne Grenzkontrollen. Doch nicht nur Reisen und Familienbesuche wurden durch den Beitritt erleichtert. Auch Unternehmen profitierten von schnelleren Lieferwegen, geringeren Kosten, Standortvorteilen und einer Ausweitung des Absatzmarktes.

Panorama Schengen
Die malerische Luxemburger Gemeinde Schengen

Nach dieser Erfolgsgeschichte erscheint es einigermaßen verwunderlich, dass der Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens so lange gedauert hat. Vor allem westeuropäische Staaten sahen die Sicherung der EU-Außengrenzen und die Bekämpfung illegaler Migration in den beiden Ländern nicht ausreichend verwirklicht. Nicht zuletzt war es Österreich, das den Beitritt bis zum Schluss verhinderte und als letztes Land seinen Widerstand aufgab. Und das, obwohl die Wirtschaftskammer Österreich immer wieder auf den Nutzen des Beitritts der beiden Länder hinwies.

Straßenhund
Dieser Straßenhund überquerte als erster die neu eröffnete rumänisch-ungarische Grenze

Der Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens schafft Handelshemmnisse ab, sorgt dafür, dass Waren günstiger werden und die beiden Länder als Produktions- und Absatzmarkt attraktiver werden. Wer die Länder Osteuropas nur als „Armenhaus“ ansieht, der sollte wissen, dass in absoluten Zahlen das Bruttoinlandsprodukt Rumäniens (323,2 Milliarden Euro) höher ist als das unserer tschechischen Nachbarn (305,5 Milliarden Euro). Doch es ergeben sich nicht nur Wachstumschancen für slowakische, deutsche und österreichische Unternehmen. Auch Arbeitnehmer und nicht zuletzt Angehörige der deutschen Minderheiten in Ungarn und Rumänien profitieren von der Möglichkeit grenzüberschreitender Dienstleistungen.

Warum ist nun aber diese EU-Erweiterung so bedeutsam?

Als Jaques Delors 1985 sein Amt als Kommissionspräsident antrat, war Europa gelähmt von der „Eurosklerose“, die an den Euroskeptizismus von heute erinnert. Es fehlten Visionen für die Zukunft des Kontinents. Delors hatte diese Visionen und arbeitete gezielt auf deren Verwirklichung hin.

Daher ist es gerade in den heutigen Zeiten des Neonationalismus erforderlich, weiter an den europäischen Weg zu glauben. Auch wenn einzelne Politiker in Europa weiterhin denken, eine „souveräne“ Politik abseits der EU sei möglich, ist unser Wohlstand und Erfolg nur durch die Mitgliedschaft in der Union gesichert. Berichte des IWF, und des ehemaligen Zentralbankchefs Mario Draghi zeigen, dass die USA und teilweise auch China Europa in vielen Bereichen drohen abzuhängen.

Mehr Europa als Antwort auf die Krise

Die Antwort auf den Bedeutungsverlust Europas kann daher nicht die Politik von 27 einzelnen Mitgliedsstaaten sein, sondern die Integration der EU muss weiter fortschreiten, damit Europa zukunftsfähig bleibt. Ein Stichwort könnte hier das Europa der zwei Geschwindigkeiten sein, in dem einzelne Staaten die Einigung vorantreiben und andere schrittweise folgen, wie dies beispielsweise bei Schengenraum und Eurozone bereits der Fall ist. Ideen in diese Richtung gab es schon viele. 2003 zum Beispiel stellten Pascal Lamy und Günter Verheugen den Plan einer deutsch-französischen Föderation mit einer gemeinsamen Außenpolitik vor. Vorbilder gibt es zu Genüge. Ist denn nicht die Bundesrepublik Deutschland ein föderaler Staat ehemals souveräner Länder inmitten der EU? Und ist die Tschechische und Slowakische Föderative Republik (1990–1992) etwa kein Bundesstaat gewesen? Die Utopie Lamys und Verheugens war im Kern richtig. Noch besser wäre sie gewesen, wenn sie auch die Länder Mittelost- und Osteuropas in ihre Gedanken einbezogen hätten. Europa ist mehr als nur Deutschland und Frankreich. Eine Föderation mehrerer Staaten innerhalb der bestehenden europäischen Konföderation jedoch könnte ein weiterer Schritt in Richtung europäische Einigung sein.

Ideen gibt es genug

Manch einem Mitteleuropäer mögen solche Gedankenspiele im Moment noch zu weit gehen, aber wie wäre es denn, wenn wir die Einigung dann wenigstens in anderen Bereichen mit kleinen Schritten vollziehen. Ein gutes Signal wäre etwa die Erweiterung der Eurozone, eine Vertiefung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und europaweit einheitliche Standards in der Sozialpolitik. Auch auf institutioneller Ebene könnten Reformen durchgesetzt werden, wie etwa die Aufhebung des Prinzips der Einstimmigkeit zu Gunsten einer 2/3-Mehrheit im Europäischen Rat, europäische Parteien mit länderübergreifenden Listen für Europawahlen oder die Absenkung des Wahlalters für die Wahlen des EU-Parlaments in der Slowakei auf 16 Jahre, wie es in Deutschland und Österreich bereits der Fall ist.

Am 13. Dezember 2007 wurde der Vertrag von Lissabon unterzeichnet. Diese, vorerst letzte, große Änderung des europäischen Vertragswerkes, die Europa außen- und sicherheitspolitisch stärkte, fand vor nun schon 17 Jahren statt. Wenn Europa in Zukunft noch bedeutsam sein will, muss es den Weg zum Bundesstaat einschlagen. Als Bund souveräner Nationalstaaten wird es langfristig nicht bestehen können. Es ist an der Zeit, die nächsten Schritte zu gehen.

Yannick Baumann