
Europa wirkt – auch wenn wir es oft nicht merken
Heute feiern wir symbolisch den 75. Geburtstag unserer Europäischen Union und das 80-jährige Ende des Zweiten Weltkrieges. Doch die Einheit der EU ist in den momentan turbulenten Zeiten gefährdet. Angesichts der mannigfaltigen Krisen, des Krieges in der Ukraine, der angeschlagenen transatlantischen Beziehungen und des Feldzuges autoritärer Populisten gegen die Institutionen der Europäischen Union ist vielen sicherlich nicht zum Feiern zumute. Aber es gibt Gründe, optimistisch zu sein.
Um einen Krieg in Europa „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ zu machen, schlug der französische Politiker Robert Schumann am 9. Mai 1950 in einer Ansprache vor, die Kohle- und Stahlproduktion der europäischen Länder, vor allem Frankreichs und Deutschlands, zusammenzulegen. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EKGS) war geboren. Aus ihr erwuchs unsere heutige EU.
Das slowakische Paradoxon
Seit 21 Jahren ist die Slowakei EU-Mitglied, seit 2009 ist der Euro das offizielle Zahlungsmittel. Laut einer Eurobarometer-Umfrage vom Jahresanfang haben in der Slowakei 41 Prozent der Bevölkerung ein insgesamt positives Bild von der Union. Der EU-Durchschnitt der 27 Mitgliedsstaaten liegt bei 50 Prozent. Gleichzeitig glauben 80 Prozent der Slowaken, vom EU-Beitritt profitiert zu haben. Das ist mehr als der EU-Durchschnitt von 74 Prozent. Ein Paradoxon? Tatsächlich sehen die meisten Slowaken die Vorteile des EU-Beitritts vor allem am Arbeitsmarkt. Andere Errungenschaften werden seltener wahrgenommen.
Gedankenexperiment: Wenn die Slowakei kein EU-Mitglied wäre
Stellen Sie sich vor, Sie fahren zum Einkaufen nach Polen. Zoll- und Passkontrollen an der Grenze führen dazu, dass Sie mehrere Stunden warten müssen. Das Visum haben Sie Wochen vorher beantragt. Ähnlich geht es Ihnen beim Schiurlaub in Österreich oder dem Familienbesuch in Tschechien.
Im heimischen Supermarkt zahlen Sie ein Vielfaches, da der slowakische Binnenmarkt klein und unrentabel ist. Die slowakische Krone ist – anders als der Euro – hohen Währungsschwankungen ausgesetzt. Exportzölle der Länder, die die Slowakei mit Waren beliefern, tragen dazu bei, dass die Preise nach oben schnellen.

Für den Handwerksmeister ist es nicht mehr lukrativ, auf Montage nach Deutschland zu fahren. Er müsste sich erst um eine aufwendige Arbeitserlaubnis für seine Mitarbeiter kümmern, bei der Vergabe von Dienstleistungen ist er gegenüber europäischen Konkurrenten benachteiligt.
Studenten leiden unter Studiengebühren und Stipendien fehlen, ein Studienaufenthalt im Ausland ist ohne das ERASMUS+-Programm nur schwer möglich.
Eine Überweisung ins Ausland ist ohne SEPA und IBAN mit hohen Gebühren und Bürokratie verbunden. Wenn Sie Ihre Freunde im Ausland anrufen wollen, fassen Sie sich kurz, denn die Roaming-Gebühren lassen Ihre Telefonrechnung in die Höhe schießen.
Die Reisefreiheit, der freie Arbeitsmarkt, Stipendienprogramme oder die Abschaffung der Roaminggebühren sind nur ein paar Beispiele für Errungenschaften der Europäischen Union. Ein Viertel bis ein Fünftel der Gesetze von EU-Mitgliedstaaten sind Schätzungen zufolge mittlerweile EU-Gesetze. Sie bestimmen unser Leben, ohne dass wir uns dies im Alltag bewusst machen.
Ein Imageproblem?
Trotz all der offensichtlichen Vorzüge der EU-Mitgliedschaft hat die Union ein Imageproblem. In der Slowakei kursieren die skurrilsten Mythen über die „weltfernen Bürokraten aus Brüssel“, die angeblich den rechtschaffenden Slowaken die Brimsennockerln verbieten wollen.
Es mag amüsant klingen, aber solche Polemiken gegen die EU finden bei vielen Gehör. Übrigens ist das Gegenteil der Fall. Durch die geschützte Herkunftsbezeichnung „slovenská bryndza“ garantiert die EU, dass der Brimsen-Käse auch wirklich slowakisch sein muss.
Die EU wolle krumme Bananen und Gurken verbieten, Toaster aus dem Umlauf nehmen oder uns dazu bringen, Insekten zu essen. Falsche und irreführende Meldungen über die europäische Gemeinschaft sind nichts Neues. Bereits seit zehn Jahren veröffentlicht die Niederlassung der Europäischen Kommission in der Slowakei regelmäßig auf ihrer Webseite Mythen über die EU und stellt sie richtig.
Chancen nutzen
Um heute weiter den europäischen Weg zu gehen, sollten wir uns nicht irreleiten lassen. Derzeit ist es besonders wichtig, dass wir in Europa die Chancen nutzen, die sich durch die aktuellen Krisen bieten. Die letzte große Reform der EU-Verträge war der Vertrag von Lissabon. Und der wurde vor nun schon 18 Jahren ratifiziert, nachdem drei Jahre zuvor die Initiative zu einer europäischen Verfassung gescheitert war.

Eine fortschreitende Integration wird Europa krisenfester machen und die Bedeutung unseres Kontinents in der Welt stärken. Wenn man in die Vergangenheit blickt, waren es gerade Krisen und historischen Scheidepunkte, aufgrund derer Europa den immer tieferen Weg der Einigung einschlug. Vor 75 Jahren meinte Robert Schumann bereits: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“
Yannick Baumann