Freiheit, Verantwortung und Toleranz
Anlässlich des Neujahrsempfangs 2011 der Evangelischen Akademie Tutzing (Bayern) hielt Joachim Gauck eine Rede zum Thema „Freiheit“. Er erkennt als Zeitzeuge aus seiner Lebenshaltung heraus, dass Freiheit, Verantwortung und Toleranz die Grundlage für eine globale Leitkultur sein können.
Joachim Gauck (geb. 1940), evangelischer Theologe, war von 2012 bis 2017 der 11. Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der erste Parteilose in diesem Amt. Aus Altersgründen verzichtete er darauf, bei der Wahl im Jahr 2017 erneut zu kandidieren. Seine Amtszeit endete nach fünf Jahren im März 2017.
Zu DDR-Zeiten war Gauck evangelisch-lutherischer Pastor. Im Zuge der friedlichen Revolution wurde er ein führendes Mitglied des Neuen Forums in Rostock. Von 1990 bis 2000 stand Gauck als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen an der Spitze der oft nach ihm benannten „Gauck-Behörde“, die die schriftliche Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) verwaltete und zugänglich machte.
Er engagierte sich zudem gesellschaftspolitisch mit Vorträgen und war einer der Initiatoren der Prager Erklärung sowie der Erklärung über die Verbrechen des Kommunismus. Außerdem war er Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Für seine Verdienste und Publikationen wurde er mehrfach geehrt.

Joachim Gauck bei einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 30. Jahrestages der Kerzendemonstration in Pressburg/Bratislava
Wie ich seine Rede verstehe
Gauck zeigt in seinem Tutzinger Plädoyer für Freiheit, wie er sich im politischen Raum für diese einsetzt und sie gestalten will. Er erkennt die menschliche Sehnsucht nach Freiheit und erlebt diese als etwas Befreiendes – als Möglichkeit, Freiheit mit anderen mitzugestalten und die selbstbezogene Freiheit zugunsten des Gemeinwohls zurückzustellen.
Hier entdeckt Gauck, dass er sich selbst nicht mehr als den Wichtigsten sieht. Stattdessen tun wir für den anderen Menschen, was diesem wichtig ist: Wir sind für ihn tätig, schützen ihn und bauen für ihn und mit ihm ein Nest zum Wohlfühlen – etwas, das uns gerade kleine Kinder ans Herz legen: „Wir sind geboren zur Lebensform der Bezogenheit.“
Miteinander die Welt entdecken
Diese Beziehung erleben wir als zentrale menschliche Möglichkeit und nicht als erdrückende Last, sondern als glückhaftes Geschehen, als „Teil unserer humanen Existenz“, die nicht zum Scheitern verurteilt ist. Dies hat den Theologen und Politiker das Leben gelehrt, nicht das Nachdenken über edle Gedanken anderer Menschen: „Ich habe es im Alltag gelernt.“

Diese elementare Kraft der Liebe, die uns kleine Kinder lehren, kann auch auf die Natur – die es zu schützen und zu bewahren gilt – und vor allem auf den Rechtsstaat bezogen sein, der nicht dem Gesetz des Stärkeren unterliegt. Diese Einsicht darf nicht eigenen Vorteilen und Interessen geopfert werden; sie ist ein Grundbestand des gemeinsamen Lebens. Selbst der Benutzer von Facebook wünscht sich diese Bezogenheit und damit letztlich Gemeinschaft.
Diese christlich-politische Haltung versteht Toleranz nicht als Gleichgültigkeit, die Verantwortungslosigkeit gleichkommt. Vielmehr müssen wir glaubwürdig sein, uns zu erkennen geben und bereit sein, die Werte von Fremden zu würdigen und Menschenrechte zu verteidigen. Diese sind in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verankert – nach tiefen leidvollen Erfahrungen – und antworten auf die Unfreiheit des Sozialismus.
Sein Essay schließt mit dem Wunsch, dass sich unsere Gesellschaft tolerant, wertbewusst und vor allen Dingen in Liebe zur Freiheit entwickelt und nicht vergisst, dass die Freiheit der Erwachsenen Verantwortung heißt.
Fazit
Joachim Gaucks Freiheitsplädoyer versuche ich mit meiner Lebenshaltung zu deuten, wie sie im Buch „Als Heilpädagoge im Ost-West-Dialog. Persönliche und berufliche Erfahrungen eines Karpatendeutschen“ zu finden ist.
Die aus dem Humanen, d. h. aus der Würde des Menschen, kommende Kraft kann jeder frei pflegen, der mit sich selbst zufrieden ist. Hier kann sich Freiheit im Denken und Handeln in einem nie endenden Prozess entwickeln.
Dieser humanen Realität, die keine Idealität ist, kann jeder folgen, sofern er guten Willens ist. Durch dieses Handeln wird auch dem begegnet, was der Sozialpsychologe Harald Welzer in Politik, Medien, Wirtschaft und Gesellschaft wahrnimmt: eine fortschreitende Fragmentierung (Zersplitterung oder Zergliederung), die unser gemeinsames Leben spaltet oder lähmt.
Dieser Trend kann noch gewandelt werden, wenn Menschen – fern jeglicher Selbstinitiierung – ihr Leben aus ihren veranlagten Kräften wirkmächtig und selbstbewusst miteinander gestalten. Hier wird das zutiefst Menschliche im Menschen wiederentdeckt, im täglichen Leben gepflegt und der drohenden „Resonanztaubheit“ die Stirn geboten.
Prof. Dr. Ferdinand Klein
