
Mein Schbaadla/Schwedler musste ich verlassen
In diesem Beitrag versuche ich, mich so zu erinnern, wie ich als zehnjähriges Kind die Vertreibung erlebt haben dürfte. Vor allem in den schützenden Händen meiner Mutter fühlte ich mich geborgen.
Anfang Oktober 1944 sah ich einen Panzerzug. Er konnte nicht weiterfahren, da eine Brücke gesprengt worden war. Vor der Gaststätte „Am Adla“ standen Soldaten. Einer sagte: „Wir müssen für einige Tage Schwedler verlassen, denn die Partisanen würden uns erschießen, und die Russen werden bald hier sein.“


Bevor meine Mutter (geboren in Prag), mein kranker Vater und ich am 10. Oktober 1944 auf das große Auto der deutschen Wehrmacht stiegen, ging ich noch zu meinen zwei Hasen, fütterte sie und verabschiedete mich leise: „Wir kommen ja bald wieder zurück.“ Bis dahin würden sie und unsere Kuh „Dami“ von Adolfbatschi (Onkel Adolf) versorgt werden.
Vor unserem Haus standen mehrere Autos. Mit wenig Gepäck folgte ich meinen Eltern und stieg auf eines der Fahrzeuge, auf dem bereits andere Schbaadlaleut und ein Soldat mit einem Gewehr saßen. Bald setzte sich der Konvoi in Bewegung.
Wir kamen in Zakopané an und fanden dort eine Unterkunft. Nach einigen Tagen reisten wir weiter nach Petrowitz/Piotrowice, wo wir in einer überfüllten Turnhalle übernachteten. Ich lag zwischen meinen Eltern auf Stroh. Schließlich folgten sie dem Rat meiner Schwester Maria und wir fuhren mit dem Zug zu ihr nach Wien.

Am Wiener Ostbahnhof erlebte ich einen Bombenangriff. Doch im Schutz meiner Eltern fühlte ich mich sicher. Schon am nächsten Tag ging es weiter nach Winterberg im Böhmerwald, wo mein Vater als Schneidermeister arbeitete.

Luftalarm, Soldaten, ein neues Leben
Fast täglich gab es Luftalarm und wir mussten immer wieder in den Keller flüchten. Bald sah ich amerikanische Soldaten auf großen Lastwagen und ging neugierig auf sie zu. Sie schenkten mir Kaugummi. Dann erreichte uns eine Nachricht: „Kommt nicht zurück. Hier wütet der Teufel!“
Meine Mutter kniete vor einem großen amerikanischen Lastwagen nieder und bat weinend einen jungen Soldaten: „Bitte, bitte, nimm uns mit!“ Spontan half er ihr. Wir stiegen auf und das Fahrzeug brachte uns bis nach Bamberg. Dort durften wir im Schaufenster eines Kaufhauses übernachten.
Mein Vater fand schließlich in Zeckendorf, etwa 20 Kilometer von Bamberg entfernt, eine Unterkunft in einem großen Haus, das früher einer jüdischen Familie gehört hatte und in dem nun ein Maler wohnte. Zunächst durften wir nicht hinein und mussten in einer Scheune schlafen. Doch dank einer Anordnung des Bürgermeisters bekamen wir ein Zimmer. Wenige Tage später fanden meine Eltern ein kleines Haus, in dem zuvor ebenfalls eine jüdische Familie gelebt hatte.
Mein Vater begann, für die Dorfbewohner zu schneidern, kaufte sich bald eine Nähmaschine, und meine Mutter half bei den Bauern aus. Wir sammelten Holz für den Winter. Ich verbrachte meine Zeit mit Ball-, Hüpf- und Fangspielen mit neuen Freunden und trieb allerlei kleine Streiche.
Im September 1945 kam ich in die einklassige Dorfschule und bestand im folgenden Jahr die Aufnahmeprüfung für die Oberrealschule in Bamberg. Zunächst fuhr ich mit dem Fahrrad nach Scheßlitz, um von dort mit dem Zug nach Bamberg zu gelangen. 1946 zogen wir nach Scheßlitz um. Dort trieb ich Sport (Fußball, Leichtathletik), engagierte mich in der evangelischen Jugendgruppe, lernte Blockflöte, Gitarre und Flügelhorn spielen und begleitete mit drei Freunden Gottesdienste sowie kirchliche Feste.
1950 starb mein Vater an den Folgen des Ersten Weltkriegs. Wir waren sehr arm. In den Ferien arbeitete ich als Maurergehilfe und ein Jahr später in einer Heil- und Pflegeanstalt.
Fazit
Die Erlebnisse meiner Kinderzeit – Bedrohung durch Partisanen und Vertreibung – haben mein Leben geprägt. Sie sind Teil meines Bewusstseins, meines Denkens und Handelns.
In der neuen Heimat fühlte ich mich von meinen schweigenden Eltern behütet und geschützt. Doch hin und wieder dachte ich an meine Kindheit in Schbaadla zurück. Erst nach der Samtenen Revolution 1989 begann ich bewusst, mich an diese Zeit zu erinnern – besonders während meiner ersten Besuche nach meiner Emeritierung 1997.
In einem Gespräch mit Kay Zeisberg, Redakteur bei STVR-Radio Slowakei International, das am 6. Juli 2021 im Onlineportal des Karpatendeutschen Vereins veröffentlicht wurde, sagte Zeisberg zu mir: „Sie haben mal in einem Karpatenfunk-Podcast aus Ihrer Kindheit über Ihre Kuh namens ,Dami‘ erzählt, die Sie durch die Kriegsereignisse und die Flucht nicht mehr wiedersahen – in meinen Ohren klang es so, als hätten Sie Tränen unterdrücken müssen, als Sie über diese Zeit sprachen. Ein Mann weint nicht, oder?“
Meine Antwort lautete: „Immer dann, wenn ich nach der politischen Wende in Schwedler war, dachte ich besonders an meine Kinderzeit zurück. Oft ging ich allein zum Fluss ‚de Gelenz‘ (die Göllnitz) oder auf den Mühlhübel und ließ all das noch einmal aufleben, was ich in Schwedler erlebt hatte. Plötzlich tauchten Erinnerungsbilder auf und ich begann, diese Erlebnisse weiterzuerzählen – mal traurig, mal lustig. Offenbar gehören Trauer und Freude zu unserem Leben. Wer nur von Freude und Erfolgen spricht, verdrängt das erlebte Leid. Leid und Freud sind wohl zwei Seiten einer Medaille. Daraus kann etwas Gutes entstehen!“
Wachsamkeit und aktive Mitgestaltung einer Welt, in der das Destruktive keine Ausbreitung finden kann, sind das Gebot der Stunde – in meiner alten wie in meiner neuen Heimat.
Prof. Dr. Ferdinand Klein