Ruskinovce

Rissdorf: Vertreibung, Zerstörung und Neuanfang

Rissdorf/Ruskinovce und weitere Nachbargemeinden mussten 1952 einem Truppenübungsplatz weichen und wurden in den Jahren darauf vollständig zerstört. Lesen Sie hier etwas über das dunkelste Kapitel in der Geschichte von Rissdorf.

Etwa 130.000 Karpatendeutsche lebten 1938 in der Slowakei. Am 14. September 1944 ging der erste Transport mit Lastwagen aus Kesmark/Kežmarok über Polen nach Österreich. Die Schulkinder evakuierte man zusammen mit ihren Lehrern mit Bussen nach Zakopane und dann mit dem Zug ebenfalls in Richtung Österreich. Einige Frauen nahm man als Pflegepersonal mit.

Die ersten fünf Klassen des Kesmarker Gymnasiums wurden in die Nähe von Wien in ein sogenanntes Kinder-Land-Verschickungs-Lager gebracht. Alle Kinder, getrennt von ihren Eltern, hatten es in dieser Zeit sehr schwer.

Ab November 1944 wurden Frauen und Kinder ausgesiedelt. Sie kamen in den sogenannten Sudetengau nach Komotau, in die Nähe von Karlsbad. Im Januar 1945 wurden Trecks zusammengestellt und über Zakopane und Sillein/Žilina nach Böhmen dirigiert. Mit dem Allernötigsten beladen, kamen die Flüchtlinge mit Pferdewagen nach einer äußerst abenteuerlichen Fahrt einige Wochen später bei ihren Familien an. Nach Kriegsende hatten viele Evakuierte nur ein Ziel: wieder in die angestammte Heimat zurückzukehren.

So begab sich auch eine Familie meiner Verwandtschaft in einem Güterzug auf die Reise von Komotau über Preßburg/Bratislava und Budapest zurück in die Heimat. Nach beschwerlichen vier Wochen kamen sie in Rissdorf an. Hier arbeiteten sie bis November 1945 für die neuen slowakischen Eigentümer. Nachdem sie in Kesmark und Deutschendorf/Poprad interniert wurden, danach wieder nach Rissdorf zurückkehrten, verließen sie im Juli 1949 endgültig ihre Heimat und wanderten in die USA aus. Andere Familien bauten sich neue Existenzen in Bayern und in Sachsen-Anhalt auf.

Ein Dorf verschwindet

Am 5. Februar 1952 wurde im Gebiet zwischen Leutschau/Levoča und Kesmark der Truppenübungsplatz „Javorina“ gegründet. Zuvor wurden die verbliebenen Einwohner der Orte Rissdorf, Burgerhof, Leibitzer Schwefelbad, Blažov und Scharosch gegen ihren Protest ausgesiedelt. Fünf Jahre später waren bereits etwa 85 Prozent der Gebäude in Rissdorf durch Panzer- und Flakbeschuss zerstört. Die beiden Kirchen vernichtete man in den 1980er Jahren. Alles wurden so abgetragen, dass an den Stellen heute nur Wiesen sind, wo man nicht einmal mehr erahnen kann, dass hier Häuser, Kirchen und der Friedhof waren. Lediglich die Linde vor dem ehemaligen Rathaus und das Wasserbecken der Feuerwehr im Katzwinkel existieren noch.

Ein Neuanfang

Der unbeugsame Willen ehemaliger Rissdorfer und deren Nachkommen, in ihre Heimat zurückkehren zu wollen, mündete 1991 in der Gründung des „Vereins zur Erneuerung der Gemeinde Rissdorf“. Vereinsvorsitzender war und ist der ehemalige Rissdorfer Martin Pitoňák. Nach unzähligen Protestaktionen und Verhandlungen gelang es, dass im April 2003 ein Gesetz zur Rückgabe der Liegenschaften des Militärgebietes an die slowakischen Eigentümer verabschiedet wurde.

Erst seit 2011 ist der freie Zugang in das ehemalige Militärgebiet möglich. Die Nutzung der Grundstücke ist aufgrund verschiedenster Hindernisse nur sehr beschränkt zulässig. Das Vereinsleben ist sehr rege, ebenso die Zusammenarbeit mit der Gemeinde Durlsdorf, zu der heute Rissdorf gehört. Holzkreuze wurden auf dem ehemaligen Friedhof und am Standort der evangelischen Kirche aufgestellt. Im Dezember 2007 feierte man in der auf dem Standort der katholischen Kirche errichteten Holzkapelle erstmals die Weihnachtsmesse.

Rissdorf Ruskinovce
Enthüllung der Informationstafeln in der Holzkapelle
ruskinovce madonna
Die einmalige Madonna von Rissdorf

Im Jahr 1996 gab es erste Kontakte von Angehörigen meiner Familie mit dem Rissdorfer Verein. Seit 2017 besuchen wir alljährlich das wunderschöne Bergtal von Rissdorf, treffen uns mit den Rissdorfer Freunden und tauschen uns aus. 2018 wurden zweisprachige Informationstafeln im Eingangsbereich der Kapelle enthüllt, die den Touristen Auskünfte über die außergewöhnliche Geschichte des Ortes vermitteln. Im Juni 2019 eröffneten wir gemeinsam mit weiteren Partnern für drei Monate die Ausstellung „Rissdorf – ein verschwundenes Zipser Städtchen“ in Räumen des Kesmarker Museums. Sie erfreute sich regen öffentlichen Interesses.

Die Gestaltung des Friedhofes und die derzeit stattfindende Restauration des Marienaltars der ehemaligen katholischen Kirche in Rissdorf unterstützen unsere Familien aus Deutschland und den USA. Der Wiederaufbau dieses Altars mit der über 650 Jahre alten und über die Zips hinaus sehr bekannten Madonna von Rissdorf in der katholischen Kirche des Hl. Servatius in Menhard/Vrbov wird ein großes Ereignis für die Rissdorfer und auch für die Nachkommen ehemaliger deutscher Einwohner.

Dokumente über Rissdorf

In den zurückliegenden Jahren konnte ich mit Freude feststellen, dass bei vielen Nachkommen das Interesse an der Vergangenheit unserer Vorfahren sehr wach ist – ein gutes Zeichen für den Erhalt des vereinten Europas. Seit den 1990er Jahren befasse ich mich mit der Geschichte der Zips und des Heimatortes meiner Vorfahren, inzwischen auch mit Unterstützung vieler slowakischer Freunde. Mehrere Bücher geben Auskunft über die Ergebnisse. Die wenigen, erhalten gebliebenen Dokumente wie das Rissdorfer Stadtbuch (1610-1868), die Chronik des Pfarrers Julius Szepesi oder das Konfirmandenbuch der evangelischen Kirche (1896-1944) wurden aufgearbeitet. Die Chronik der evangelischen Kirche (1757-1827) mit sehr interessanten Informationen aus der Zeit der Reformation und darüber hinaus befindet sich derzeit in Bearbeitung. Ich bedanke mich bei allen Lesern für Ihr Interesse.

Reinhard Scholtz

(E-Mail: reinhard(ad)familie-scholtz.de)