Zwischen den Zeilen des Lebens

Manche sagen, man müsse viele Bücher lesen, um das Leben zu begreifen. Andere meinen, man müsse es selbst durchleben, um herauszufinden, ob man falsch lebt oder nur falsch gelesen hat. Und vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Denn, wie George Orwell in seinem Roman 1984 schrieb: Die besten Bücher sind jene, die einem sagen, was man tief im Inneren längst weiß.

In diesem Sinne trug auch das diesjährige BRaK – das Festival für Bücher in der slowakischen Hauptstadt – den Geist von Orwells Roman in sich: zeitlos, scharfsinnig und mitunter verstörend ehrlich. Vom 29. Mai bis 1. Juni verwandelte sich das historische Zentrum von Pressburg/Bratislava in einen literarischen Raum der Gegenwart – voller Gedanken, Geschichten und jener Worte, die bleiben, auch wenn die Seiten längst umgeblättert sind. Denn dort, wo Sprache verstummt, beginnt das Vergessen. Und dort, wo Literatur spricht, beginnt das Erinnern.

Literatur als gesellschaftlicher Spiegel

Das Leitthema des diesjährigen Bücherfestivals lautete „Väzbi!“ (Verbinde!) – und fügte sich nahtlos in eine Tradition reflektierter Festivaljahrgänge ein. Seit seiner Gründung im Jahr 2014 widmet sich BRaK Themen, die weit über das Literarische hinausweisen: von „Länder hinter dem Spiegel“, einer Reise in fantastische Welten, über „Exil und Samisdat“, dass sich mit Dissidenz und Exilliteratur befasste, bis hin zu „Neue Zeit“, einer Reaktion auf die pandemische Wirklichkeit.

„Wenn wir zurückblicken, sehen wir, dass sich unsere Themen zunehmend gesellschaftlichen Fragen zuwenden – sie überschreiten die Grenzen der Literatur und verknüpfen sie mit dem größeren Ganzen: mit Kunst, aber auch mit Gesellschaft“, sagt František Malík, Gründer und Leiter des Festivals. „Väzbi! ist unsere Antwort auf das, was um uns herum geschieht.“

Bücher, die Grenzen überschreiten

Unter den vielen internationalen Gästen des diesjährigen Festivals präsentierte der renommierte zeitgenössische österreichische Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker seinen preisgekrönten Roman „Brennende Felder“, für den er 2024 den Österreichischen Buchpreis erhielt. Das Werk erzählt die Geschichte einer Frau, die nach der Aufdeckung eines lang verborgenen Familiengeheimnisses ihre Beziehungen, ihre Vergangenheit und ihre eigene Identität neu überdenkt.

Die Themen von Kaiser-Mühlecker sind eng mit seinem eigenen Leben verwoben. Immer wieder kehrt er in seinen Werken zu Fragen von Herkunft, Verantwortung, familiären Verstrickungen und dem Leben auf dem Land zurück. Dabei greift er auch auf seine persönlichen Erfahrungen zurück: Neben dem Schreiben betreibt er Landwirtschaft – eine Tätigkeit, die in seiner Familie tief verwurzelt ist. „Die Literatur kennt das Landleben kaum. Und viele in der bäuerlichen Welt empfinden Schriftsteller als etwas sehr Fernes. Mein Ziel ist es, eine Brücke zwischen diesen Welten zu schlagen“, erklärt er.

Kultur im Zentrum – wörtlich genommen

Das Festival konnte dank enger Kooperation mit mehreren städtischen Einrichtungen umgesetzt werden. „Sie stellten nicht nur Räumlichkeiten zur Verfügung, sondern halfen auch bei der Organisation, Programmplanung und technischen Umsetzung“, erklärt Programmdramaturgin Zuzana Bujačková.

Früher fand das Festival in der Nová Cvernovka (Neue Zwirnfabrik) statt – seit vergangenem Jahr jedoch in der Stadtmitte. Malík begründet: „Für uns gehören Bücher ins Zentrum des Geschehens. Es ist großartig, dass unsere kleine große Stadt das möglich macht.“

Comics, Musik und eine Bühne für die Kleinsten

Eine weitere Neuheit war das eigene Comic-Programm im Pálffy-Palais der Städtischen Galerie, das in Zusammenarbeit mit der Akademie für bildende Künste kuratiert wurde. Auch das musikalische Angebot war deutlich erweitert – mit Konzerten im gesamten Altstadtbereich und einem großen Finale am Samstagabend auf dem Schiff Pink Whale.

Auch das jüngste Publikum kam nicht zu kurz. Im Innenhof des Stadtmuseums entstand eine Art literarischer Spielplatz für Kinder – ganz im Zeichen des Internationalen Kindertags.

Zwischenmenschliche Verbindungen

Menschen verbinden. Einander zuhören. Diskutieren. Sich sehen. Das war das stille Versprechen dieses BRaK – und vielleicht seine lauteste Botschaft. Denn Sprache und Literatur sind mehr als Mittel. Sie sind Erinnerung. Widerstand. Herkunft. Hoffnung. Nur das, was gesagt, geschrieben, erinnert wird, kann dem Vergessen trotzen. Nur was sich verbindet, kann Bestand haben.

Und vielleicht liegt darin die größte Stärke: im Miteinander der Stimmen. Im Faden zwischen einem selbst und dem Andern. In jenen Büchern, die einem sagen, was man tief im Inneren längst weiß.

Lucia Vlčeková