Buch Patronenfabrik Patronka

Buchbesprechung „aufgewacht… in der Patronenfabrik am 4. Juli 1945“

Als sogenannte „historische Ereignisse“ werden gemeinhin (welt-)geschichtliche Ereignisse bezeichnet, welche als gemeinsame Erzählung (Narrativ) im kulturellen Gedächtnis (M. Halbwachs) einer Ethnie oder Nation erhalten bleiben. Das vorliegende Buch ist ein Beispiel dafür, dass derartige Phänomene nicht nur in der Weltgeschichte, sondern genauso für kleinere Gruppen existieren können.

70 Jahre danach
„aufgewacht… in der Patronenfabrik“ knüpft an dieses 2015 erschienene Buch an.

Der 3. Juli 1945 ist der geschichtliche Moment, an dem für die Bevölkerung der Ortschaft Bruck an der Donau (nahe Preßburg) die Welt zu existieren aufgehört hat. Die ehemalige Preßburger Munitionsfabrik „Patrónka“ ist jener Ort, an dem die gesamte Brucker Bevölkerung nach Zwangsenteignung und Deportation in einem Anti-Ort, einem Lager, zwangsverwahrt wurde, ehe sie die neuen slowakischen Machthaber am 23. Juli 1945 nach Österreich verschoben.

Das vorliegende Buch wurde 2020 von P. Alois Sághy SDB in Wien herausgegeben. Es knüpft an den 2015 erschienenen Vorgängerband „70 Jahre danach“ an, erinnert noch einmal an diese schicksalshaften Tage und Wochen und schildert in einer Reihe von Berichten die Ereignisse vom Tag der Deportation, vom Aufenthalt in Patrónka und der zwangsweisen Abschiebung nach Österreich.

Zeitzeugenberichte und historische Einblicke

Im ersten Abschnitt berichten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen minutiös von der unvorstellbaren Dramatik jener Stunde, wo sie Haus und Hof verlassen mussten. Besonders interessant ist, dass dabei auch Raum für individuelle Schicksale und Nuancen bleibt: von Menschen, die noch vor der Deportation in Nachbardörfer zu Verwandten geflüchtet sind; von dem Mädchen Gerti, das brüllte vor Schmerz, als ihr Hund „Schipsl“ hinter dem abfahrenden Laster herlief; von Brucker Bürgern, die in der Nacht aus Patrónka nach Bruck zurückkehrten und – meist vergeblich – versuchten, aus ihren Häusern Essensvorräte zu holen; von einem Großvater, der nach der Vertreibung von Österreich freiwillig wieder nach Bruck zurückging, weil er nicht ohne die Brucker Heimat sein konnte; auch von der Spaltung des Dorfes (1938-1945) auf Grund der teilweisen Begeisterung für den Nationalsozialismus.

Aus den nachfolgenden Kapiteln seien noch zwei herausgehoben: Robert Richnovsky gibt einen informativen historischen Überblick über die Entwicklung Brucks an der Donau als eine von fünf deutschen Ortschaften auf der Großen Schüttinsel zwischen Donau, Kleiner Donau und Waag. Er spannt einen großen Bogen von der ersten Besiedlung im neunten Jahrhundert über die Eingliederung in den neuen Nationalstaat Tschechoslowakei l918 bis zur Gründung des unabhängigen slowakischen Staates 1939 und zur Vertreibung 1945.

Das Gedächtnis bleibt

In einem pastoraltheologischen Beitrag versucht Regina Pollak, der Erfahrung der Migration einen theologischen Sinn zu geben: Exil, Versklavung, die Armut der hebräischen Flüchtlinge und der Migranten aus Ägypten wurden für die Brucker zur eigenen Erfahrung. Das Narrativ des Auszugs aus der Sklaverei und der Hoffnung auf neues Leben wurden für die ,,Gemeinschaft von Patrónka“ Realität. Das Gedächtnis an das Erlebte bleibt und es wird noch lange bleiben als Aufgabe für die Nachgeborenen angesichts der transgenerationalen Weitergabe von Traumatisierung (Michaela Pucher-Schwartz). Aber es bleibt auch das Narrativ der zentralen christlichen Erfahrung von Befreiung, kann man doch heute (nach 75 Jahren) von einem Wunder sprechen, denn „wer hätte diese Entwicklung voraussagen können?“ (Alois Sághy)

Aus dieser Erfahrung resultiert ein Auftrag, den ich aus der am Ende des Buches abgedruckten Botschaft Papst Franziskus‘ zum Welttag des Migranten 2019 entnehme: „Es geht nicht nur um die Migranten: Es geht darum, die Stadt Gottes und des Menschen aufzubauen.“ (Seite 96)

Ein empfehlenswertes Buch, nicht nur eine Geschichte über Bruck an der Donau, sondern ein Beispiel für die vielfachen nationalen Säuberungen nach 1945 in Europa. Schade, dass das Buch nur privat und nicht in einem Verlag erschien, es hätte eine breitere Öffentlichkeit verdient.

Dr. Helmut Wagner

(Lehrer für Geschichte an der PH Oberösterreich)