Erinnern und gründliches Nachdenken über die NS-Verbrechen ist geboten

Über die NS-Verbrechen dachten junge Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung und ihre Begleiter im Rahmen des Projekts „Begegnungen mit dem Nationalsozialismus“ der Klassen 8/9 des Förderzentrums für Körperbehinderte in Altdorf bei Nürnberg nach. Als Ergebnis schufen die Teilnehmer das „Denk-Mal – Wo stehe ich?“ Das Denkmal befindet sich vor dem Wichernhaus in Altdorf.

Die jungen Menschen und ihre pädagogisch-therapeutischen Begleiter setzten sich 2002 in einem längeren fächerübergreifenden Projekt mit dem Nationalsozialismus intensiv auseinander. Auch am konkreten Ort in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg konnten die jungen Menschen über die NS-Verbrechen nachdenken. An Einzelschicksalen erlebten sie, was damals wirklich geschah. Sie tauchten tief in die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft ein.

Das „Denk-Mal“ vor dem Wichernhaus in Altdorf
Das „Denk-Mal“ vor dem Wichernhaus in Altdorf

Mit Sehnsucht im Herzen ein Denk-Mal schaffen

Jeder Teilnehmer fand in langen und schwierigen Gesprächen und Diskussionen seine eigene Position zu Fragen über Schuld, Verantwortung und Gewissen. In Gesprächen mit dem Bildhauer, der das Projekt begleitete, wurde deutlich, dass die Teilnehmenden als ein Ergebnis kein historisches Erinnerungsmal schaffen wollten. Sie hatten den konkreten Wunsch ein „Denk-Mal“ zu schaffen, das für die Gegenwart und Zukunft eine gestaltbildende Bedeutung haben sollte. Das brachte die Teilnehmer auf den Gedanken die erarbeitete Aussage „MENSCH IST MENSCH“ und „BEFEHL IST BEFEHL“ in zwei Steine aus Flossenbürger Granit zu meißeln; dazwischen sollten Metallplatten liegen mit zwei Fußabdrücken und dem von „uns allen“ eingeritzten Text „WO STEHE ICH?“ – die Grundfrage, der sich jeder einzelne in den verschiedensten Gewaltsituationen stellen muss.

Die Teilnehmer stellten schwierige Fragen an sich selbst

Die Projektteilnehmer lernten, dass man als Künstler keine vorgefertigten Antworten gibt, sondern vielmehr Fragen stellt und zum schöpferischen Tun inspiriert. Darauf machte schon der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys aufmerksam. Für Beuys „ist jeder Mensch ein Künstler“; in ihm liegt die Möglichkeit zum Künstlerischen im Umgang mit den eigenen Gedanken. Menschsein und Künstlersein sind hier also gleichermaßen ursprünglich. Und gerade die jungen Menschen haben gelernt, dass künstlerisches Schaffen geistige Arbeit ist, die auch in Krisen führen, anstrengend und aufreibend sein kann.

Doch obwohl der Diskussionsprozess der jungen Menschen, des Künstlers und der Begleiter oft schwierig war und wiederholt zu scheitern drohte, waren alle um Achtung des Anderen bemüht. Diese Erfahrung, trotz Frustrationen und Enttäuschungen zu pflegen und sich am Ende mit dem gemeinsam Erreichten identifizieren zu können, ist das Ergebnis eines wechselseitigen Lernprozesses, bei dem immer wieder Antworten auf Fragen gesucht wurden:

  • War es die richtige Frage?
  • Welche Antwort habe ich gefunden?
  • Welche Antworten haben wir gefunden?
  • Was konnte ich an mir beobachten?
  • Was konnten wir an uns beobachten?
  • Haben wir uns gegenseitig darauf aufmerksam gemacht?

Bei diesen Fragen erziehen nicht nur die pädagogischen Fachkräfte die jungen Menschen, sondern die jungen Menschen erziehen auch ihre Erzieher. Erst dadurch, dass sich jeder der offenen Situation mit der Möglichkeit des Scheiterns bewusst stellte, gewann er Hoffnung, Zuversicht und neue Perspektiven.

Der „Schule des Todes“ die Stirn bieten

Das Bildungsprojekt kann als Gegenentwurf zu einer von Oberflächlichkeit, Passivität und Mechanik beherrschten „Schule des Todes“, wie der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak sie nannte, verstanden werden: Korczak fragte: Kann man nicht der Schulzeit die Bitterkeit nehmen, kann man nicht das Kind dem Leben zuwenden, ihm erlauben zu fragen und langsam seinen Geist dahinführen, dass es selbst erfahren möchte, wo der Kern des Wissens steckt? Dieses dialogische Denken und Handeln steht als Angebot für Inklusion, für die politische Kultur und für den demokratischen Rechtsstaat.

Erkenntnis

Erinnern an das „Denk-Mal – Wo stehe ich?“ ist geboten. Die Pädagogik des feinfühlenden Arztes und Erziehers Korczak macht Ernst mit der moralischen Forderung des bekannten deutschen Soziologen und Philosophen Theodor Adorno: Dass Auschwitz nicht noch einmal auf die Menschen hereinbreche, ist die allererste Forderung an die Erziehung, die das individuelle Kind in seiner Würde zu achten und auf seinem Lebensweg in Ehrfurcht zu begleiten und zu führen hat.

Prof. Dr. Ferdinand Klein