Judit Kováts und ihre Romane über Schicksale der Minderheiten aus der Zips
Judit Kováts, ungarische Historikerin, Archivarin und Schriftstellerin, verarbeitet in ihrem literarischen Werk das Schicksal von Minderheiten und der eigenen Familiengeschichte nach Ende des Zweiten Weltkriegs. In einem Interview im März 2023 gab sie einen Einblick über die Beweggründe, sich in ihrem 2020 erschienenen Roman „Heimatlos“ mit dem Schicksal der Karpatendeutschen in der Slowakei zu befassen.
Frau Kováts, wie kamen Sie dazu, sich mit den deutschen Minderheiten in der Slowakei zu beschäftigen und ihnen einen Roman zu widmen?
Zunächst möchte ich sagen, dass mein Roman „Heimatlos“ eigentlich mit meiner Heirat begann. Es mag wie ein Scherz klingen, doch so ist es nicht gemeint. Mein Mann entstammt einer uralten Zipser Familie. In meinem Buch geht es um eine solche Familie, deren Mitglieder alles erlitten haben, was die ungarischen und deutschen Minderheiten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Tschechoslowakei durch die Beneš-Dekrete erleiden mussten. Das heißt, totale Entrechtung und Enteignung, Gefängnis, Zwangsarbeit, Internierung, usw.
Gibt es Personen, deren Lebensgeschichte Sie besonders inspiriert hat?
Mein Roman basiert zu einem kleinen Teil auf Interviews mit Familienmitgliedern, die in der Slowakei leben, und zu einem größeren Teil auf Augenzeugenberichten und Erinnerungen, die ich während meiner Recherchen gesammelt habe. Das Wichtigste der von mir geführten Interviews ist das mit meiner Tante Anna: Ich habe sie zum Vorbild für die Schülerin Lili Hartmann genommen.
Können Sie einen Einblick in das Leben der historischen Tante Anna geben?
Sie wurde als Baronin in einem Schloss geboren und besuchte das deutsche Gymnasium in der Knifemark, bis ihr Leben im Alter von 17 Jahren zusammenbrach. Deutscher Name, ungarische Identität, aristokratische Herkunft: Sie war eine dreifache ‚Verbrecherin‘ in der Nachkriegs-Tschechoslowakei. Die Folgen waren ein totaler Vermögensentzug, der Vater im Gefängnis, Kollektivschuld, kein Schulabschluss möglich, weil die Staatsbürgerschaft entzogen wurde – wie bei allen Deutschen und Ungarn. Trotz alledem blieb Tante Anna in ihrer Heimat, sie ging nicht weg. Mit enormer Kraft baute sie sich ein neues Leben auf, und ihr Optimismus hat sie nie verlassen. Bemerkenswert war, dass sie keinen Hass fühlte.
Was erlebten weitere Mitglieder ihrer Familie im Zuge des Zweiten Weltkriegs und wie gingen sie mit der Situation um?
Mein Schwiegervater, der von der Universität geworfen, interniert und in einem Zwangsarbeitslager inhaftiert wurde und unser Onkel Miklós aus Kassa (Anm. Kaschau/Košice), der als kleines Kind die totale Entrechtung, Deportation, Beschlagnahmung des Eigentums und die Inhaftierung seines Vaters erlebte, empfanden ebenso wie Anna keine Wut. Als alle deutschen und ungarischen Schulen in der Tschechoslowakei geschlossen wurden, suchten er und seine Schwester Zuflucht über die grüne Grenze nach Ungarn, um dort zu studieren. Jahrelang verließen sie ihre Heimat im September und kehrten im Juni, in den Sommerferien, zurück. Ihre Entschlossenheit, ihr Durchhaltevermögen und ihr Glaube werden für mich immer ein Vorbild bleiben.
Sie schreiben ihre Romane ausschließlich über das Schicksal von Minderheiten. Welchen Zusammenhang gibt es in Ihren bisher erschienenen Werken?
Die drei Romane „Entrissen“, „Heimatlos“ und „Die Kinder der Tatra“ sind eigenständige Werke, gleichzeitig lassen sie sich aber auch als Teile einer Reihe betrachten. „Die Kinder der Tatra“ ist eindeutig die Fortsetzung von „Heimatlos“, und wenn auch nicht derart eng, so sind auch „Heimatlos“ und „Entrissen“ miteinander verknüpft. Die beiden Romane haben ein gemeinsames Thema: das Schicksal der deutschen und ungarischen Minderheiten in der Nachkriegs-Tschechoslowakei. „Entrissen“ erzählt die Geschichte der Ungarn, „Heimatlos“ die der Deutschen.
Das bedeutet, Ihre Romane spielen überwiegend auf dem Gebiet der heutigen Slowakei?
Der gemeinsame und wichtige Schauplatz der Romane ist die bereits erwähnte dreisprachige, multikulturelle Zips. Die Werke haben mehrere Figuren gemeinsam, wie die Schülerinnen des deutschen Gymnasiums in Kesmark, Kinga Engelhart und Lili Hartmann und ihre Klassenkameradinnen und Freundinnen. Ich selbst nehme im Roman „Entrissen“ die Rolle der Kinga Engelhart ein.
Folglich arbeiten Sie Ihre Familiengeschichte auf mehreren Ebenen auf, geben Ihren Familienmitgliedern stellvertretend für alle deutschen Minderheiten, die Flucht und Vertreibung erleiden mussten, eine Stimme.
Die Stimme meiner Romanfiguren ist ihre Stimme, das Schicksal der Figuren ist ihr Schicksal. Es war mein entschiedenes Ziel, ihnen mit meinen Werken ein Denkmal zu errichten.
Das Gespräch führte Theresa Stangl.