Meine Antwort auf die Tendenzen der Zeit

Am Ausgang der Moderne ist der gesamte Bereich der Kultur und Bildung von einem epochalen Wandel erfasst, der zu neuen Anforderungen an den einzelnen Menschen führt. Wir stehen mitten im Prozess globaler sozialer und wirtschaftlicher Umbrüche. Hass, Gewalt und Zerstörung greifen um sich. Umbrüche und Entsolidarisierung erzeugen Unsicherheit und Angst. Viele Menschen finden in einer durch Krisen geprägten Zeit keinen ausreichenden Ratgeber mehr und leben in existenzieller Angst. 

Weit verbreitet ist die Angst vor dem Anderen. Noch vor Jahrzehnten hatte man Angst vor einem bestimmten Schuldigen, den man ausmachen und bekämpfen konnte. Heute kann man die Ursachen der Angst nicht mehr dingfest machen und gezielt angehen. Es können verschiedene, miteinander verwobene Ursachen ausfindig gemacht werden. Liegen sie im Beziehungsgeflecht mitten unter uns? Sozialpsychiater sprechen von Menschen mit „Sozialphobie“ und weisen sogar auf eine sich entwickelnde „autistische Gesellschaft“ hin. Sie sehen in der autistischen Beziehungsstörung mit ihrer eigenen Gefühlskälte und Distanz zum anderen Menschen eine Gefahr für die Demokratie, für das Denken in Freiheit, für die Liebe zum Leben.

Die Google-Facebook-Welt negiert das Begegnen von Mensch zu Mensch

Diskurse über das „neue Profil des Menschen“ weisen darauf hin, dass der Mensch zur Ware zu werden droht. Er ist nicht mehr nur Person mit persönlichen Daten, sondern zu einem Datensatz geworden, der durch Firmen wie Facebook und Google im Netz vermarktet wird. Informatiker sprechen vom Computer als Bewusstseinsmaschine, die neue Formen des Erkennens generiert. Doch die hergestellten Zusammenhänge sind keine von Menschen gestalteten Sinnzusammenhänge mehr. Sie verfeinern lediglich formale Muster. Der Einzelne wird zur bewusstlosen Ware und das Begegnen von Mensch zu Mensch fehlt.

Es stellt sich mir die Frage: Wie kann auf die drohende Unsicherheit, Angst und Vermarktung des Menschen geantwortet werden? Auf diese existenzielle Frage versuche ich mit dem Heidelberger Psychiater, Philosophen und Pädagogen Thomas Fuchs und dem Urwalddoktor Albert Schweitzer eine Antwort zu geben.

Liebe zum Leben

Thomas Fuchs (geb. 1958) steht in der humanistischen Tradition von Erich Fromm, für den die „Liebe zum Leben die kostbarste Eigenschaft des Menschen ist“. Den Leistungen des Menschen in den Wissenschaften, der Kunst, des Rechts und der Technik steht die erschreckende Seite gegenüber, nämlich Hass, Gewalt, Krieg und Destruktion. Fuchs fragt nach dem Ausweg aus dem Schwanken zwischen Größe und Elend des Menschen und erkennt die Notwendigkeit des Wandels des Menschen, der insbesondere einschließt: die Verabschiedung von Allmachtsphantasien, Selbstbejahung und Demut, das Einüben echter Empathie und das eigene Einbetten in einen übergreifenden und sinnvollen Zusammenhang. Entscheidend ist das sinnliche Erfahren des anderen Menschen, sein wirkliches Du: sein Blick, seine Stimme, seine leibliche Gegenwart, seine körperliche Ausstrahlungskraft. Diese Zwischenleiblichkeit kann durch die virtuelle Gegenwart des Anderen nicht ersetzt werden. Vielmehr ist das Bewusstsein einzubetten in einen übergreifenden Sinnzusammenhang, in ein Handeln aus Ehrfurcht vor dem Leben.

Aus Ehrfurcht vor dem Leben handeln

Geboten ist das Beachten, was uns Albert Schweitzer ans Herz legt: Handeln aus „Ehrfurcht vor dem Leben“. Diese Ehrfurcht ist kein Trieb, sondern eine ethische Haltung. Sie trotzt dem Austausch von Informationen wie in der digitalen Welt. Die im Menschen tief verankerte innere Haltung ermöglicht das aufmerksame Zuhören und das Begegnen auf Augenhöhe. Hier können noch nicht gedachte Gedanken sich formen und Neues kann entstehen. Das lehrt Albert Schweitzers „Heimweh nach dem Kindsein in uns“: „Das ist das Große am Kind, dass es das Gute bei dem Menschen immer wieder als selbstverständlich voraussetzt. Das Vertrauen, das in seinen Augen leuchtet, weckt ein fast erschütterndes Heimweh nach dem Kindsein in uns, denn das haben wir im Leben verloren.“

Albert Schweitzer ging es um eine universelle ethische Haltung, die aus einer tief verwurzelten Lebens- und Weltbejahung erwächst. Der weltweit bekannte Theologe, Arzt, Philosoph, Musiker, Organist, Orgelbauer und Erbauer des afrikanischen Krankenhauses Lambarene wirkt noch heute im Geist seiner Humanität. Er hatte die „Ehrfurcht vor dem Leben“ mit seinen Mitmenschen gelebt. Als Vorbild fühlte er sich auch für die alltägliche einfache Arbeit nicht zu schade. Schweitzer zeigte allen politischen Widerständen zum Trotz, dass ein guter Geist stärker ist als die Macht der Verhältnisse. Schon in jungen Jahren sah er seine Aufgabe darin, für andere Menschen Gutes zu tun. Allein die Besinnung auf das ihm selbst widerfahrene Glück führte ihn zu der Einsicht, dass jeder das Gute, das er empfängt, an andere Menschen weitergeben müsse. Mehr noch: Schweitzer staunte und erkannte, dass die Hingabe für den anderen Menschen ein größeres Glück bedeutet, als sich unablässig um das eigene Wohl zu kümmern. Aus dieser gelebten Mitmenschlichkeit entwickelte sich seine Lebensaufgabe: sein Dienst an anderen Menschen. Er war für kranke, behinderte, vernachlässigte und arme Menschen da. In einer Atmosphäre des Vertrauens und des innerlich freien Denkens regelte und löste er die vielfältigen alltäglichen Probleme in Lambarene. Für Albert Schweitzer werden die Menschen der Zukunft jene sein, die ihre Herzen in den Gedanken sprechen lassen. Seine Ethik wurde unter schwierigsten Lebens- und Arbeitsbedingungen aus der Kraft des Herzens geboren und hat auf alle Widerstände mit der „Trotzmacht des Geistes“ bis heute erfolgreich geantwortet, weil ein guter Geist stärker ist als die Macht der Verhältnisse. Schweitzers Handlungsethik ermutigt und überwindet lähmende Angst, unter deren Einfluss der Mensch letztlich nur hassen und verachten kann.

Fazit

Diese tiefe dialogische Haltung, die uns Thomas Fuchs und Albert Schweitzer ans Herz legen, mündet in die Verantwortung, die wir füreinander als Menschen und für das Leben insgesamt übernehmen. Dann mag es uns auch gelingen, uns auf der Erde wirklich zu beheimaten. Es wird keine andere Heimat für uns geben.

Prof. Dr. Dr. et Prof. h. c. Ferdinand Klein