Heilpädagoge Ferdinand Klein im Gespräch
In „Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas“ (2/2017) erschien ein Gespräch mit dem Heilpädagogen und Logotherapeuten Ferdinand Klein, der aus Schwedler/Švedlár in der Slowakei stammt. Darin geht es um das Erinnern, Flucht, Vertreibung, Aussöhnung und Sinnpotentiale des Lebens.
Herr Klein, Sie kommen aus der Karpaten-Region, um genauer zu sein aus Schwedler (sk. Švedlár) in der heutigen Slowakei. Seit wann sind Sie in Deutschland?
Ich kam mit meiner Familie nach einem Jahr Flucht als elfjähriges Kind im Juni 1945 von Schwedler nach Deutschland. Seit 72 Jahren ist Deutschland sozusagen meine neue beziehungsweise zweite Heimat.
Würden Sie sagen, dass die Fluchterfahrung Ihren Lebensweg nachhaltig geprägt hat?
Definitiv hat diese Kindheitserfahrung meinen Werdegang als Heilpädagoge und Logotherapeut beeinflusst. Insbesondere Viktor Frankls Theorie der Logotherapie, also der Seelenheilkunde durch Sinnvermittlung, hat mir hinsichtlich meiner persönlichen Aussöhnung mit der Fluchterfahrung geholfen.
Können Sie das konkretisieren?
Frankls Lehre vom „Willen zum Sinn“ beinhaltet sowohl eine Lebensstrategie als auch einen Weg zur Aussöhnung mit den erfahrenen grausamen Erlebnissen, und ebendieser Aspekt ist für mich zentral für den Umgang mit der eigenen Geschichte. Denn nur in der Versöhnung können meiner Meinung nach die seelischen Verletzungen und Lebenskrisen überwunden werden.
Aber beinhaltet Versöhnung nicht auch einen Abschluss? Sollte nicht an die Geschehnisse regelmäßig erinnert werden, um sie nicht aus dem Gedächtnis zu löschen? Es liegt doch in unserer Verantwortung, die nachfolgenden Generationen vor solchen Geschehnissen zu warnen!
Damit sprechen Sie im Tenor der Jugend, die uns „Alte“ mahnt, das was wirklich geschehen ist, auch zu erinnern. Ich kann nur von meiner Erfahrung im Herbst 2013 zum 60-jährigen Bestehen des Bundesvertriebenengesetzes berichten, bei dem an das Schicksal der Erlebnisgeneration gedacht wurde. Das Gedenken war nicht geprägt von Gefühlen des Hasses, der Rache und Vergeltung, sondern der Chance der Heimatvertriebenen, sich mit den grausamen Erlebnissen auszusöhnen und damit quasi der „Sehnsucht des menschlichen Herzens“ zu folgen. Das ist auch eine der wichtigsten Aufgaben, die aber nur durch Versöhnung bewältigt werden kann.
Wie sind Sie mit den Erfahrungen in Ihrem Heimatort umgegangen?
Ich habe versucht, das Erlebte aufzuarbeiten. Nach Kriegsende im Mai 1945 geschah viel in Schwedler, über das lange Zeit der Mantel des Schweigens gelegt wurde. Eine Aufarbeitung der Geschichte war also längst fällig. Deshalb begannen wir, jährliche Bildungsseminare mit Unterzipser Schulkindern in Schwedler zu veranstalten, bei denen wir Zeitzeugen einluden, die oftmals unter Tränen anfingen, über ihre seelischen Verletzungen zu berichten.
Wie reagierten die Kinder auf die Aussagen der Zeitzeugen?
Mit sehr viel Interesse. Die Kinder waren tief bewegt und wollten mehr über die Umstände wissen. Daraufhin machten wir mit ihnen eine Exkursion nach Dobschau (sk. Dobšina). In der Dorfkirche erinnerten wir gemeinsam vor der Gedenktafel an die 131 Dobschauer Opfer und gedachten aller 267 Opfer des Massenmordes von Prerau. 78 Kinder (das Jüngste war sechs Monate alt), 120 Frauen (die Älteste war 90 Jahre alt) und 69 überwiegend ältere Männer waren damals, sechs Wochen nach Kriegsende, zurück in ihre Heimat gefahren und wurden in einer Nacht von slowakischen Soldaten des 17. Infanterieregiments aus Engerau (sk. Petržalka ) erschossen. Der Bericht hat die Kinder sehr bewegt und sie fragten uns, wie Menschen so etwas machen konnten – und was sie tun könnten.
Und was haben Sie geantwortet?
Wir können um Versöhnung bitten. Denn Versöhnung leugnet oder bagatellisiert nicht die Schuld, sondern im Gegenteil, nimmt sie ernst und überwindet sie durch die Kraft der Nächstenliebe. Aufgrund dieser und anderer Erfahrungen kann ich dem slowakischen Historiker František Neupauer nur zustimmen, wenn er dafür eintritt, dass wir uns nicht allein auf die Zukunft konzentrieren und die Vergangenheit ruhen lassen. Jeder von uns muss nach seiner eigenen Verantwortlichkeit fragen. Es ist Zeit für eine vollständige Betrachtung der Geschichte.
Was fehlt Ihrer Meinung nach zu einer vollständigen Betrachtung der Geschichte?
Eine allumfassende Betrachtung der einzelnen Lebensgeschichten: die persönlichen Erfahrungen aller und der individuelle Umgang mit diesen. Ein Schwedler Mitbürger, Herr Karl Krauß, erzählte beispielsweise an seinem 100. Geburtstag in Gegenwart von ehemaligen Befürwortern des kommunistischen Regimes von der Begnadigung seiner Familie gegen Kriegsende. 1945 fand seine Familie in einem Ort in Mähren wieder zusammen, wurde aber von russischen Soldaten entdeckt, aus dem Haus geführt, um erschossen zu werden. Die drei Soldaten schossen jedoch fünf Mal in die Luft, wodurch die Familie gerettet wurde. Herr Kraußʼ Geschichte ist ein gutes Beispiel dafür, dass der Mensch zu jedem Zeitpunkt die Freiheit besitzt, sich für einen Standpunkt zu entscheiden. Die Zukunft ist also immer von einer Entscheidung im Augenblick abhängig, und die russischen Soldaten haben durch ihre Güte das Leben der Familie gerettet.
Und wie ging Herr Kraußʼ Lebensweg weiter?
Karl Krauß und seine Familie kehrten anschließend in ihren Heimatsort Schwedler zurück. Dort wurden sie von den Partisanen wie Verbrecher behandelt. Insbesondere traf es Herrn Krauß, der mit weiteren 50 Männern eines Abends abgeführt und in Göllnitz (sk. Gelnica) in einen Kerker gesperrt wurde. Das Grauen im Lager und die schlechten Lebensbedingungen, wie beispielsweise das Essen, lassen sich kaum in Worte fassen. Da keine Beweise gegen ihn gefunden werden konnten, wurde er nach drei Monaten Kerker, vielen Verhören und Schikanen wieder entlassen. Danach kehrte er in sein ausgeraubtes Haus und zu seiner in Elend lebenden Familie zurück.
Wie ging er mit dieser Situation um? Wie hat er sein Leben weitergeführt, nachdem ihm so viel Leid zugestoßen ist?
Obwohl Herr Krauß zur Zielscheibe des Hasses geworden war, hat er sich der eigenen „Trotzmacht des Geistes“, um es mit Viktor Frankls Worten zu sagen, bedient. Denn er beschloss, in Schwedler zu bleiben, und er fand sogar, bis er 1969 in Rente ging, Arbeit. Über die schweren Zeiten haben ihm sein Gottvertrauen sowie die Liebe zur Heimat geholfen. Seine Lebensgeschichte zeigt, wie ein Mensch Leid ertragen kann, sofern er darin einen tieferen Sinn sieht.
Also ist es Ihrer Meinung nach möglich, ein sinnerfülltes Leben in der Sinnlosigkeit des Krieges zu führen?
Das habe ich bereits mit den Hinweisen auf Frankls Konzept des „Willens zum Sinn“ gemeint. In Situationen äußerster Entmenschlichung findet der Mensch, indem er sich innerlich von Geschehnissen distanziert, Glauben an den Sinn des Lebens. Man kann einem Menschen alles nehmen, nur nicht die letzte Freiheit, sich so oder so zu den gegebenen Verhältnissen einzustellen. Daher kann die menschliche Existenz, bis zum letzten Atemzug, auch niemals wirklich sinnlos werden. Meiner Meinung nach ermöglicht eben Frankls Credo, dass auf jedes schmerzliche Leidensschicksal und jede Grenzerfahrung eine sinnvolle Antwort gefunden werden kann, den Karpatendeutschen einen menschlichen Dialog über den eigenen Lebens-Sinn.
Gibt es denn weitere Erfahrungsberichte über diese Art der Aussöhnung mit der Vergangenheit?
Durch das Literaturkränzchen der Ortsgemeinschaft Einsiedel (sk. Mníšek nad Hnilcom) des Karpatendeutschen Vereins in der Slowakei unter der Leitung von Ilse Stupák erreichte mich die Lebensgeschichte der Gebliebenen Anna Mitríková aus Göllnitz. Sie und ihr Bruder waren zwar 1944 auf die Evakuierung vorbereitet und auch für zwei Wochen bei Bekannten bei Prešov im Dorf Žipov untergebracht, kamen allerdings vor Weihnachten, als bereits deutsche Soldaten im Haus einquartiert waren, wieder nach Hause zurück. In diesen Lebensumständen hat die Familie Front und Befreiung überlebt.
Und in der Folge?
1949 drohte ihnen bereits die Vertreibung beziehungsweise die Erschießung, und bei einer allein erziehenden Mutter mit fünf Kindern war die Chance, eine Vertreibung zu überleben, äußerst gering. Die Familie blieb in Göllnitz und versuchte, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Ihr Eigentum wurde konfisziert und den Familienmitgliedern die Staatsbürgerschaft aberkannt.
Und wie bewertete Frau Mitríková ihre Lebensumstände?
In ihrer kindlichen Auffassung kam ihr ihre Geschichte normal vor, und sie hatte keine Gründe, darüber nachzudenken, was anders hätte sein können. Aber es gab natürlich ein Unverständnis gegenüber Krieg und Vertreibung. Erst retrospektiv setzte sie sich dann mit ihrem Lebenssinn als gebranntes Kind auseinander.
Was war ihr Fazit?
Eine schöne Kindheit! Sie hat das Beste aus ihrer Lebenssituation gemacht. Obwohl ihr das Deutschsprechen verboten wurde und sie in der slowakischen Schule sowie später im Gymnasium dem Terror der Lehrer gegen die „Germanenkinder“ ausgesetzt war, hat sie ihr Leid als Motivation genutzt. Sie berichtete von ihrem Ehrgeiz, den slowakischen Kindern gleich zu sein, sogar, diese in der Schule übertreffen zu wollen. Deshalb lernte sie die Lesebücher der Nachbarinnen auswendig. Auch ihre Muttersprache hat sie nie aufgegeben. In der Schule wurde nur Russisch, Französisch und Latein unterrichtet. Nach ihrem Studium der Biologie und Chemie lernte sie extern Deutsch und hat vielen Menschen zumindest Grundkenntnisse beibringen können.
Und Sie hat nicht das Gefühl, etwas verpasst oder vorenthalten bekommen zu haben?
Einzig, ihren Kindern nicht Deutsch beigebracht zu haben. Auch den anonymen Beschwerden gegen sie als „Germanin“ in ihrer Tätigkeit als Leiterin der „Schule der Natur“ (Schullandheim) hat sie Stand gehalten. Ihr Leben ist ein Zeugnis eines Menschen, der sein Leben zum eigenen, familiären und allgemeinen Wohl gelebt hat. Trotz aller Widerstände hat sie ihr Leben gemeistert und Ja zu ihrem Schicksal gesagt.
Dann ist das Fazit der beiden Lebensgeschichten – in der Frankel’schen Formulierung – der Wille zum Sinn?
So würde ich das auch sehen. Herr Krauß und Frau Mitríková haben auf die Sinnlosigkeit des Krieges mit einem persönlichen Lebenssinn geantwortet. Den Willen zum Sinn kann jeder Mensch nur für sich selbst (immer wieder neu) finden und realisieren. Dies ermöglicht eben auch den persönlichen Dialog und menschliche Beziehungen – und damit die Auseinandersetzung und Versöhnung mit der ganzen (individuellen) Geschichte.
Vielen Dank für Ihre persönlichen Einblicke und die inspirierenden Worte.“
Das Interview wurde von Frau Ann-Marie Struck bearbeitet.
(mit freundlicher Genehmigung des verantwortlichen Herausgebers Dr. Florian Kührer-Wielach und des Verlages Friedrich Pustet, Regensburg)