Der Anti-Rüpel von 1908
Stört es Sie, wenn in Bus oder Bahn jemand laut telefoniert? Hat Ihr Nachbar einen oft bellenden Hund in der Wohnung oder feiert lautstark bis in die tiefe Nacht? Missfällt Ihnen das Drängeln beim Einsteigen in ein Verkehrsmittel oder anderes, unhöfliches oder rücksichtsloses Verhalten? Dagegen organisierten sich bereits vor mehr als 110 Jahren Bewegungen, die sich Antilärmbund (1905, USA) oder Lärmschutzbewegung (Deutschland, 1908) nannten.
In der Aberdeen Weekly (Mississippi, USA) vom 11. November 1904 wird auf Seite 6 folgendes humorvolles Gespräch abgedruckt:
Frau Church: „Wussten Sie, dass ein neuer Verein gegründet wurde, der die Geschäfte Ihres Mannes gefährdet? Frau Gotham: „Was für ein Verein soll denn das sein?“ „Die Gesellschaft für das Unterdrücken unnötiger Geräusche.” „Wie soll das die Geschäfte meines Mannes beeinflussen?” „Er verkauft doch Phonographen!”
Unnötige Geräusche!
Vorausgegangen war die Mitteilung, dass die Ärztin und Mutter von sechs Kindern, Julia Rice, eine Kampagne gegen jede Art von störenden Lärm, der nicht für das Leben in der Stadt notwendig ist, begonnen hatte.
Frau Rice lebte mit ihrem Mann, einem wohlhabenden Rechtsanwalt und Unternehmer, in der Riverside Drive, einer parallel zum Hudson River gelegenen Straße. Sie fühlte sich wie viele von den Geräuschen der Flussschifffahrt gestört, insbesondere von den Lotsen, die Pfeifen und Sirenen für persönliche Nachrichten verwendeten.
Auch über die damals zum Teil notwendigen akustischen Signale der Schifffahrt hinaus gab es genug andere Lärmquellen, wie etwa das Klappern der Pferdehufe, Geräusche aus den Werkshallen und von den vielen Baustellen in der schnell wachsenden Stadt. Als störende Geräusche nannte Frau Rice auch „Fabriksirenen, Feuerwerkskörper und das Klappern mit Stöcken entlang eiserner Zäune”.
Breite Unterstützung
Die „Society for the suppression of unnecessary noise” (Gesellschaft für die Unterdrückung unnötiger Geräusche), so der Name des von ihr dann gegründeten Vereins, fand schnell Unterstützer und Einfluss. Man stellte fest, dass von Schiffen im Hudson River allein in einer Nacht etwas 3000 akustische Signale abgegeben wurden. Daraufhin trat 1908 in den USA ein Gesetz in Kraft, dass das Verursachen überflüssiger Schiffssignale bestrafte, bis hin zum Entziehen der Anlegekonzession.
Vorsitzender Mark Twain
Eine Abteilung des Vereins kümmerte sich um das Vermeiden von Geräuschen in der Nähe von Kinderkrankenhäusern. Für deren Vorsitz stellte sich Mark Twain, der bei Kindern beliebte Buchautor, zur Verfügung.
Belächelter Gründer
Die Diskussion in den USA wurde durch politischen Spürsinn und ökonomische Elemente, wie das Sinken der Grundstückspreise in lärmbelasteten Gegenden, bestimmt.
Dagegen belächelte man in Deutschland den Gründer der dortigen Lärmschutzbewegung, den Philosophiedozenten Theodor Lessing, als Phantast. Nicht nur, weil die Mitglieder seines Verbandes vor allem Musiker, Künstler, Schriftsteller und Ärzte waren, sein Konzept war eine Mischung aus romantischen und sozialistischen Ideen.
Monatsblatt „Der Anti-Rüpel“
Neben Lärm spielte für den Verband das Verhalten der Menschen zueinander, ihre Höflichkeit und Hilfsbereitschaft, eine große Rolle. Man wollte auch gegen das Rüpeltum vorgehen. Dazu diente ein Monatsblatt mit dem Namen „Der Anti-Rüpel”. In der ersten Ausgabe wird das Ziel genannt, eine „Partei der anständigen Leute” zu werden.
Die Bezeichnung „Der Anti-Rüpel“ für das Monatsblatt stand jedoch schnell in der Kritik und wurde erst in „Das Recht auf Stille” und dann nach Befragung der Mitglieder in „Recht auf Stille” geändert.
Das Blatt berichtete über Fälle von Lärm und Unhöflichkeit, die Klagen dagegen und deren Erfolge sowie neue Gesetze zum Thema Lärm. Es wurde über den wachsenden Einfluss der Lärmschutzvereine außerhalb Deutschlands geschrieben und dafür geworben, dass das Blatt in Hotels, Restaurants, Bibliotheken und Warteräumen ausgelegt wird. Auch die Poesie kam nicht zu kurz, wie das Gedicht „Musiksteuer” zeigt.
Verständnis fehlte zunächst
Der zunehmende Straßen- und Schienenverkehr und der damit verbundene Lärm wurden aber von der Bevölkerung noch positiv gesehen. Auch die Gewerkschaften konnten nicht überzeugt werden, denn Lärm am Arbeitsplatz war kein Punkt in ihrem Forderungskatalog.
Der Erste Weltkrieg verdrängte die Themen der Lärmschutzbewegung von der Tagesordnung.
Neues Lärmbewusstsein
Die Lärmquellen und das Lärmbewusstsein haben sich seitdem verändert. Lärmschutz gehört zum Arbeitsschutz. Seit 1998 gibt es in Deutschland den „Tag gegen Lärm”, der international am 29. April begangen wird und es gibt eine EU-Umgebungslärmrichtlinie. Trotzdem entstehen heute noch lokale Lärmschutzvereine. Meist bündeln sie Proteste gegen Bauvorhaben, in deren Folge der örtliche Geräuschpegel ansteigt, zum Beispiel durch den Bau neuer Straßen.
Höflichkeit ist bislang in keiner EU-Verordnung definiert. Aber auch ohne Richtlinien und Vereine kann jeder von uns ein wenig selbst das „Recht auf Stille”, einschließlich der gegenseitigen Rücksichtnahme, für sich und seine Umwelt verwirklichen.
Dr. Heinz Schleusener