Die Geschichte des Francisco del Pino
Im März 1960 schließen Spanien und die Bundesrepublik Deutschland ein Abkommen über die Beschäftigung spanischer Gastarbeiter in Deutschland. Die EU in heutiger Form gibt es noch nicht. Ihr Vorläufer, die EWG, besteht aus sechs Staaten. Spanien wird noch von Diktator Franco regiert. Das deutsche Wirtschaftswunder verlangt viele Arbeitskräfte. Deutsche Sprachkenntnisse sind nicht Voraussetzung.
So kommen infolge dieser Vereinbarung 1960 und in den folgenden Jahren etwa eine halbe Million Spanier in die Bundesrepublik, von denen allerdings die meisten nach einiger Zeit wieder nach Spanien zurückkehren. Mitte der neunziger Jahre bis 2003, hatte ich während meines beruflichen Aufenthaltes in Madrid viele Kontakte mit „Rückkehrern“, die zum Teil noch erstaunlich gute Deutschkenntnisse besaßen und gerne von ihren Erfahrungen erzählten.
Sie bewerteten ihren Deutschlandaufenthalt überwiegend positiv, allerdings berichtete unser Montageleiter Angel Nuñez, der in Mülheim an der Ruhr gelebt und gearbeitet hatte, über Probleme mit deutschen Nachbarn: Familie Nuñez kochte wie in Spanien üblich mit Olivenöl, das für deutsche Nasen einen fremdartigen Geruch verbreitete. Heute lächeln wir darüber, hat doch die mediterrane Küche und auch das Olivenöl in viele deutsche Haushalte Einzug gehalten.
Die Geschichte des Francisco del Pino aber hat mich am meisten beeindruckt: Der 26-jährige Madrilene, kleinwüchsig, drahtig, 50 Kilogramm leicht, will 1960 auch sein Glück in Deutschland suchen. Am 14. August kauft er sich eine Hinfahrkarte nach Frankfurt. In der Tasche hat er die Visitenkarte eines Mercedes-Niederlassungsleiters, die ihm sein bisheriger Chef in der Firma Boetticher, Madrid, als Empfehlung mitgegeben hat.
An der deutsch-französischen Grenze in Straßburg kommt die Enttäuschung. Francisco kann den geforderten Arbeitsvertrag nicht vorweisen. Auch reichen seine Mittel nicht aus, um als Tourist einreisen zu können. Er darf nicht weiterfahren.
Was tun?
Er kauft sich eine Fahrkarte nach Paris, um dort Arbeit zu suchen. Das schmälert seine Reisekasse erheblich. Zwei Wochen bemüht er sich erfolglos. Er übernachtet mit den Clochards unter den Seine-Brücken. Der mitgebrachte Reiseproviant, Chorizo und Fischdosen, ist längst aufgebraucht, der Geldbeutel leer. Er muss sich auf den Heimweg machen, zu Fuß, 1300 Kilometer, mit dem Pappkoffer in der Hand.
Zum Glück ist es Sommer und er kann sich von Obst und Feldfrüchten ernähren. Er schläft im Freien, wäscht sich in Gewässern. Einmal, noch in Frankreich, hält ein Auto an. Da dessen Zielrichtung nicht mit der seinen übereinstimmt, verliert er nur Zeit. Ab der spanischen Grenzstadt Irun fährt er als Schwarzfahrer mit der Bahn bis nach Vitoria, das erspart ihm 120 Kilometer Fußmarsch. Für die noch fehlenden 370 Kilometer bis nach Madrid gibt es keine Mitfahrgelegenheit, da die Autofahrer wegen des aktiven ETA-Terrors sehr misstrauisch sind.
Die Tageskilometerleistung wird immer geringer. Es ist bereits Oktober, die Nächte im Guadarrama-Gebirge, sind empfindlich kühl. Zwei Monate dauert die unfreiwillige Wanderschaft und als er zu Hause ankommt wiegt er nur noch 38 Kilogramm. Doch er lässt sich nicht entmutigen. Nur drei Monate später steigt er erneut in den Zug, er hat sein Normalgewicht wieder erreicht und die erforderlichen Dokumente dabei.
Sieben Jahre arbeitet er bei der Demag AG in Duisburg und die letzten 33 Jahre seines Berufslebens ist er treuer Mitarbeiter in der Mechanischen Werkstatt der Madrider Tochtergesellschaft der Demag, wo ich ihn in den Ruhestand verabschieden darf. An diesem Tage erzählt er mir seine Geschichte.
Die deutsche Sprache und ihre Bedeutung für junge Spanier
Seine Generation, die der damaligen Gastarbeiter, muss erleben, dass es beginnend mit der Finanzkrise 2008 wieder junge Spanier aus wirtschaftlicher Not nach Deutschland zieht. Doch die Umstände sind andere: Die Grenze ist zwar kein Hindernis mehr, dafür sind eine gute Ausbildung und vor allem deutsche Sprachkenntnisse gefordert. Die Goethe-Institute in Madrid und Barcelona melden schon seit 2010 ständig steigende Anmeldezahlen.
Vorteile haben die vielen Spanier, die eine der sieben deutschen Schulen in Spanien besuchen können. In keinem anderen Land der Welt gibt es mehr deutsche Auslandsschulen, die zum deutschen Abitur führen.
Die deutsche Sprache hat somit eine immer größere Bedeutung für Spanier. Und so ist der überregionalen Tageszeitung „El Mundo“ auch eine regionale Begebenheit eine Meldung wert: Deutsche Rentner, hervorgehoben wird die 78-jährige Ursula, in Jávea (Alicante) – hier leben 55 Prozent Ausländer, mehrheitlich Deutsche – üben Solidarität und geben spanischen Arbeitslosen kostenlosen Deutschunterricht.
Text und Fotos: Rudolf Göllner