Gibt es einen Weihnachtsmann?
Die New Yorker Zeitung The Sun erschien von 1833 bis 1950. Sie war bedeutsam und hatte einen großen Leserkreis. Drei Monate vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1897, am 21. September, druckte sie auf Seite 6 in der dritten der sieben Textspalten den Brief der achtjährigen Virginia O’Hanlon ab. Im Brief stellt Virginia die Frage „Is there a Santa Claus?“ (Gibt es einen Weihnachtsmann), die auch heute, 126 Jahre nach dem Erscheinen dieses Artikels, von Kindern ihres Alters noch gestellt wird.
Wie es zum Brief an die Zeitung kam
Wie wohl alle Kinder, freute sich Virginia auf Weihnachten und die Weihnachtsgeschenke. Diese, so hatten ihr die Eltern erklärt, würden in der Nacht zum Weihnachtstag von Santa Claus, dem Weihnachtsmann, gebracht. Von ihren Freunden hörte Virginia aber, es gäbe gar keinen Weihnachtsmann.
Auf der Suche nach der Wahrheit ging sie zu ihrem Vater. Der tat sich mit einer Antwort schwer und meinte, die bedeutende Zeitung The Sun kann sicher die richtige Antwort geben. Sie warb nämlich mit dem Slogan „If you see it in The Sun it’s so “, also sinngemäß „Wenn es in der The Sun steht, dann ist das richtig “.
Virginia schrieb tatsächlich an die Zeitung. Unter der Überschrift „Is there a Santa Claus? “ lesen wir die von Virginia gestellte Frage.
Hier die deutsche Übersetzung:
„Lieber Redakteur: Ich bin 8 Jahre alt.
Einige meiner kleinen Freunde sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Mein Papa sagt ‚Wenn Du es in der THE SUN siehst, ist es so.‘ Bitte sagen Sie mir die Wahrheit: Gibt es einen Weihnachtsmann?
Virginia O’Hanlon.
115 West Ninety-Fifth Street“
Die von dem Redakteur der The Sun, Francis P. Church (1839–1906), gegebene Antwort führt zusammen mit der Frage zu einer der schönsten Weihnachtsgeschichten, die weltweit erzählt werden.
Die Antwort der Zeitung:
„Virginia, Deine kleinen Freunde haben unrecht. Sie sind beeinflusst von der Skepsis eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben an nichts, das sie nicht sehen.
Sie glauben, dass nichts sein kann, was ihr kleiner Verstand nicht fassen kann. Der Verstand, Virginia, sei er nun von Erwachsenen oder Kindern, ist immer klein. In diesem unserem großen Universum ist der Mensch vom Intellekt her ein bloßes Insekt, eine Ameise, verglichen mit der grenzenlosen Welt über ihm, gemessen an der Intelligenz, die zum Begreifen der Gesamtheit von Wahrheit und Wissen fähig ist. Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann.
Er existiert so zweifellos wie Liebe und Großzügigkeit und Zuneigung bestehen, und Du weißt, dass sie reichlich vorhanden sind und Deinem Leben seine höchste Schönheit und Freude geben. O weh! Wie öde wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe. Sie wäre so öde, als wenn es dort keine Virginias gäbe. Es gäbe dann keinen kindlichen Glauben, keine Poesie, keine Romantik, die diese Existenz erträglich machen. Wir hätten keine Freude außer durch die Sinne und den Anblick. Das ewige Licht, mit dem die Kindheit die Welt erfüllt, wäre ausgelöscht. Nicht an den Weihnachtsmann glauben! Du könntest ebenso gut nicht an Elfen glauben! Du könntest deinen Papa veranlassen, Menschen anzustellen, die am Weihnachtsabend auf alle Kamine aufpassen, um den Weihnachtsmann zu fangen; aber selbst wenn sie den Weihnachtsmann nicht herunterkommen sähen, was würde das beweisen? Niemand sieht den Weihnachtsmann, aber das ist kein Zeichen dafür, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Die wirklichsten Dinge in der Welt sind jene, die weder Kinder noch Erwachsene sehen können. Sahst Du jemals Elfen auf dem Rasen tanzen? Selbstverständlich nicht, aber das ist kein Beweis dafür, dass sie nicht dort sind. Niemand kann die ungesehenen und unsichtbaren Wunder der Welt begreifen oder sie sich vorstellen. Du kannst die Babyrassel auseinanderreißen und nachsehen, was darin die Geräusche erzeugt; aber die unsichtbare Welt ist von einem Schleier bedeckt, den nicht der stärkste Mann, noch nicht einmal die gemeinsame Stärke aller stärksten Männer aller Zeiten, auseinanderreißen könnte. Nur Glaube, Phantasie, Poesie, Liebe, Romantik können diesen Vorhang beiseiteschieben und die übernatürliche Schönheit und den Glanz dahinter betrachten und beschreiben. Ist das alles wahr? Ach, Virginia, in der ganzen Welt ist nichts sonst wahrer und beständiger. Kein Weihnachtsmann! Gott sei Dank! lebt er, und er lebt auf ewig. Noch in tausend Jahren, Virginia, nein, noch in zehnmal zehntausend Jahren wird er fortfahren, das Herz der Kindheit zu erfreuen.“
Berühmt durch den Brief
Die 1889 geborene Virginia O’Hanlon studierte an der New Yorker Columbia Universität und arbeitete als Lehrerin. Mit ihrem Ehemann Edward Douglas hatte sie eine 1915 geborene Tochter. Weltbekannt wurde sie durch ihren Brief an die The Sun und die zu Herzen gehende Antwort des Redakteurs. Sie erhielt dazu viel Post, vor allem zur Weihnachtszeit. Ihren Antworten legte sie stets eine Kopie des veröffentlichten Artikels bei. Virginia O’Hanlon starb 1971 in einem Seniorenheim.
Dr. Heinz Schleusener