Kunst antwortet in der „Farbe der Liebe“ auf Herausforderungen der Zeit

Kunst antwortet in der „Farbe der Liebe“ auf Herausforderungen der Zeit

Gerade in einer aus den Fugen geratenen Zeit, die uns an existentielle Grenzthemen führt und herausfordert, über das Leben, seinen Sinn und seinen hohen Bedeutungswert und unsere Endlichkeit bis hin zu unserem Tod und einer möglichen Existenz danach sorgsam nachzudenken, ist ein schöpferischer Blick zurück nach vorne geboten, um die eigene Lebenssituation in ihrer Vielfalt zu begreifen und mit einem Weltzusammenhang zu vernetzen.

Dafür stehen die sinnzentrierten Worte des Friedensforschers und Künstlers Joseph Beuys sowie des Philosophen und Künstlers Peter Ratke. Ihr feinfühlendes Denken und Handeln, das uns auf bedeutsame Lebensfragen hinweist, erläutere ich an zwei Beispielen meines Heimatortes Schwedler.

Joseph Beuys (1921-1986) plädiert dafür, Kunst über die Grenzen des sonst üblichen Verständnisses von Kunst hinaus zu verstehen. In seiner Lebenskunst praktiziert er das Ein- und Mitfühlen als Quelle schöpferischer Energie, die jedem Menschen innewohnt: „Jeder freie Mensch ist kreativ. Da Kreativität einen Künstler ausmacht, folgt: Nur wer Künstler ist, ist Mensch. Jeder Mensch ist Künstler.“ Das erkannte bereits der Existenzphilosoph, Psychiater und Psychologen Karl Jaspers (1883-1969). Er hat tief in die Seele der Menschen geschaut. Für Jaspers sind gerade kleine Kinder wahre Künstler. Sie philosophieren ganz ursprünglich und vollziehen so ihr Dasein aus ihren veranlagten und impulsgesteuerten Kräften heraus.

Der Philosoph, Schauspieler und promovierte Romanist Peter Radtke (1943-2022) wurde mit drei Knochenbrüchen geboren und war Zeit seines Lebens an den Rollstuhl gebunden. Er wurde 2003 in den Nationalen Ethikrat, 2008 in dessen Nachfolger, den Deutschen Ethikrat berufen und 2012 wiederberufen. Als zeitkritischer Beobachter bezog er schon 2009 eindeutig Stellung für alle behinderten und benachteiligten Menschen: „Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren lassen, geistig Behinderte, Körperbehinderte und Sinnesgeschädigte.“ Für Radtke wirken Vorurteile, Klischeevorstellungen von Leid und mangelnde Lebensqualität zum Schaden aller Betroffenen zusammen. Nicht die Menschen mit Beeinträchtigungen sind zu eliminieren, sondern die unseligen Gedanken aus den Köpfen vieler Zeitgenossen, deren Zahl stetig wächst und sich nicht nur in individuellen Begegnungen sondern auch in politischen Dimensionen ausdrückt. Damit ist eine humanistische, menschorientierte Haltung die zuvorderst gesellschaftliche Aufgabe unserer Tage.

Was sagt mir der schöpferische Blick zurück nach vorn?

In der Kunst haben sich die Menschen früher authentisch ausgedrückt, mit verinnerlichten Wurzeln als bedeutsam und miteinander verbunden erlebt und auf vielfältige Weisen ausgesprochen: Weit über die Theorie und Praxis hinaus offenbarte sich ihnen, wer sie waren und aus welchen Kräften sie lebten. Kunst ist das beglückende Wahrnehmen und Schaffen von Gestalten, das aus der Herzmitte kommt. Das zeigt das Beispiel des Schwedlerer Sängerchores, das vor dem Denkmal des Pfarrers und Heimatdichters Franz Ratzenberger zum Innehalten ruft und dazu beiträgt, Gedanken und Gefühle miteinander zu verbinden, um persönliche Erkenntnisse zu gewinnen, Altbekanntes in Frage zu stellen oder zu stabilisieren und Neues zu entdecken, um die eigene Entwicklung voranzubringen.

Der Sängerchor folgt dem autobiografischen Roman „Dossier K. Eine Ermittlung“ des ungarisch-jüdischen Holocaust-Überlebenden Imre Kertész (1929 – 2016). Kertész, der 2002 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, greift die elementaren Fragen seiner Existenz und damit auch Fragen auf, denen wir nicht ausweichen dürfen, auch wenn es schwere beziehungsweise angstmachende Gedanken sind. So heißt es in der Gestalttherapie: „Werden kennt kein Ende. Der Strom fließt weiter. Jeder Augenblick ist neu. Der Schmerz des Wachsens: Der Mühen wert.“ (Bruno-Paul de Roeck). Kertész bringt sein Erleben des Martyriums im Holocaust in den Horizont des Fragens und weicht keinem Problem aus. Er betrachtet sein Leben und das Leben der Menschen als Feier. Daraus erwächst sein Weltvertrauen und Vertrauen in das Gute im Menschen.

Dieses Vertrauen liegt auch Joseph Beuys und Peter Radtke am Herzen. Es wird in Gestaltungskunst gelebt, die jeden Menschen in seiner Würde als unteilbare Qualität achtet und ihm von Beginn an ermöglicht, sich selbst zu führen. Eine Wahrheit, die viele Menschen nicht mehr entdecken und stattdessen immer häufiger den Bedingungen des Lebens die Verantwortung zuschieben. Das zeigt das Beispiel aus einem Schwedlerer Kultur- und Bildungsseminar mit Kindern der Unterzips: Sie gestalten ihre Kunstwerke ganz ursprünglich aus ihren veranlagten und zum Ausdruck gebrachten Kräften heraus.

Wie ich diese Beispiele verstehe

Als Kind, das mit 10 Jahren seine geliebte Heimat Schwedler verlassen musste, komme ich mit meinen 90 Jahren zur Einsicht: Der Mensch ist keine Frage der Definition sondern eine Tatsache der Wahrnehmung. Er braucht Liebe, Vertrauen, Lebensfreude und Zuversicht. 

Davon war der russisch-jüdische Künstler Marc Chagall lebenslang überzeugt, der trotz der Schwierigkeiten in der Welt, die Liebe, in der er erzogen wurde, in seinem Inneren nie aufgegeben hat: „In unserem Leben gibt es wie auf der Palette eines Malers nur eine einzige Farbe, die dem Leben und der Kunst Sinn verleiht, die Farbe der Liebe“.

Diese schöpferisch-künstlerische Gestaltungskraft kann jeder Mensch aus seinem Herzen heraus jenseits großer und hochtrabender Worte pflegen und die Beziehungen im gesellschaftlichen und politischen Raum gestalten. Diese aus der Menschenwürde kommende schöpferische Kraft wird der Mensch intuitiv und ganz selbstverständlich verwirklichen, der mit sich selbst zufrieden ist. 

Abschließender Impuls

Beziehungen scheitern an mangelnder oder ausweichender Kommunikation – egal ob zwischenmenschlich oder zwischenstaatlich, was aisch zu Kommunikationsstörungen, entstehendem Hass, zu Gewalt im Kleinen und im Großen und letztendlich zu kriegerischen Auseinandersetzung führt. Darauf kann in der „Farbe der Liebe“ geantwortet werden.

Eine zusammenfassende Antwort gibt die neuseeländische Erziehungswissenschaftlerin Wendy Lee: indem wir unser eigenes Leben ehren, das Beste in uns anstreben, Risiken eingehen und unsere Grenzen ausdehnen, den Sprung ins Ungewisse wagen, Orte finden, an denen wir nie zuvor waren, Vertrauen haben und unsere Ängste niederringen, unsere besondere Einmaligkeit willkommen heißen, Dinge aus Freude um ihrer selbst willen tun, uns verlangsamen, den wichtigen Dingen Raum geben, in die freie Natur gehen, jeden Tag jeden Augenblick wertschätzen, lernen alles zu leben, nicht nur das Erfreuliche und die Triumphe, sondern auch die Schmerzen und Kämpfe, mehr geben als wir nehmen, für andere da sein und etwas bewirken.

Prof. Dr. Dr. et Prof. h.c. Ferdinand Klein