Wo Opa Drachen steigen ließ
Von hier aus betrachtete mein Opa Olomouc/Olmütz von oben, als es in Flammen aufging. Mit dem Sieg der Russen fand in diesem Ort das schlimmste Kapitel seines Lebens statt. Zusammen mit ihm und meiner Oma bin ich im Juni nach Tschechien gefahren – dorthin, wo mein Opa seine Kindheit verbrachte. Es wurde eine Reise der ganz besonderen Art.
Epperswagen lag auf einer Art Hochebene, zusammen mit drei weiteren Dörfern. Auf dem Blitzhügel, dem höchsten Punkt im Ort, hatte man eine tolle Aussicht auf das 15 Kilometer entfernte Olmütz.
„Mein Papa ist oft hingelaufen, wenn Markttag war“, erzählt Opa. „Für die besonderen Sachen – nicht Mehl oder Kartoffeln, sondern so etwas wie Nähnadeln. Vielleicht alle acht oder zehn Wochen. Morgens um halb sieben war er wieder da.“
Opa ist ein wunderbarer Geschichtenerzähler – das war er schon immer. Die Drachen, die er in seiner Kindheit aus den Bettlaken seiner Mama gebaut hat, sehe ich fast am Himmel über mich hinweg gleiten, als ich auf dem ehemaligen Militärübungsplatz stehe.
Die Panzerspuren sind heute von einer Wiese, kleinen Büschen und einheimischen Gewächsen wie Lupinen bedeckt. Es ist friedlich hier – der Wind pfeift durch das kniehohe Gras, Bäume säumen den mit Schlaglöchern gezeichneten Asphaltweg, der uns nach oben geführt hat.
Fast ein Wunder, dass wir überhaupt hier sind
Vor 20 Jahren mussten meine Großeltern noch querfeldein und heimlich unter dem Schlagbaum durchklettern, der das militärische Sperrgebiet auf dieser Seite des Berges kennzeichnete. Damals war alles verwüstet, trostlos. Heute dagegen sieht man keine Spur mehr vom russischen Bunker, dem die Häuser der deutschen Gemeinde auf dem Blitzhügel einst weichen mussten. Die weiß-blaue Metallschranke neben dem „Betreten verboten“-Schild steht offen.
In einem dieser Häuser hat Opa die ersten sieben Jahre seines Lebens verbracht. „Meine Heimat ist das nicht mehr. Heimat, Zuhause – das ist für mich ein Ort, an dem ich mich wohlfühle, ein Ort, an dem ich willkommen bin.”
Willkommen war er hier definitiv nicht mehr. Plünderungen, Gewalt, Enteignung, Ausbeutung und schließlich die Vertreibung – diese Erlebnisse bestimmten die Nachkriegszeit für die deutsche Minderheit in der Region.
Ein bisschen wehmütig wird sein Blick allerdings schon, hier oben. Mit Epperswagen verbindet Opa nämlich vor allem schöne Momente – Skifahren in Großwasser, dem Sonntagsfrühstück seiner Mama, selbstgebauten Windmühlen und Segelfliegern.
Mehr als 70 Jahre danach kommen diese Erinnerungen zurück
Heute existiert kaum ein Weg noch so, wie Opa ihn in Erinnerung hat – an Epperswagen erinnert heute nur noch ein Gedenkstein, vor dem aber überraschenderweise frische Blumen in einer Vase stehen. Wenn man den 83-Jährigen aber beobachtet, kann man den kleinen Jungen wieder erkennen, der hier einst den Berg hinuntergerannt ist, dabei einen Gartenzaun beschädigt hat und sich so etliche Schürfwunden zugezogen hat. Und eine ordentliche Tracht Prügel vom Vater.
Was sich in weniger als einem Jahrhundert verändert hat, das wird mir in diesem Moment bewusst. Wir sind mit unserem Auto hergekommen – etwas, das man in Epperswagen nicht kannte. Ganz im Gegenteil: Man könnte meinen, Autos waren der Anfang vom Ende dieses Ortes, denn mit ihnen kamen die russischen Soldaten, die die Dorfbewohner innerhalb von zwei Stunden auf ihre Planwagen verluden. Mehr Zeit blieb nicht, um sich von der Heimat zu verabschieden, Familienerbstücke wurden konfisziert, so dass kaum eine Erinnerung überblieb. Und wohin die „Reise“ ging, das wussten die Epperswagener erst, als sie am Bahnhof Olomouc getrennt wurden. Familien wurden zerrissen, ein Wiedersehen war ungewiss.
Heute moderne Studentenstadt
Es muss sich seltsam für Opa anfühlen, Minuten später durch die verwinkelten Gässchen in der Altstadt von Olomouc zu laufen. Heute erlebt man hier die Atmosphäre einer pulsierenden, modernen Studentenstadt – Opa hat damals den Grundstein dafür gelegt, als er mit 600 anderen Jungen in seinem Alter die Stadt aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs wieder aufbauen musste. Ziegel schleppen von Sonnenauf- bis Untergang.
Wie viele der Jungen das Arbeitslager überlebten, das weiß Opa bis heute nicht. Er selbst hatte Glück. Ihn holte nach zwei Wochen ein Freund der Familie heraus.
Trotzdem sind diese Wochen wohl die dunkelsten und prägendsten in seinem Leben – und vielleicht hat mein Opa auch wegen dieser Erfahrungen so eine unzerstörbar optimistische und humorvolle Art an sich.
Helen Breunig