Denkmal am Museum der Kultur der Karpatendeutschen

70 Jahre Stuttgarter Charta -Leitwort für 2020

Am 5. August vor 70 Jahren wurde in Stuttgart die Charta der deutschen Heimatvertriebenen verabschiedet. Sie ist ein klares Bekenntnis zur Schaffung eines Vereinten Europa, zur Verständigung zwischen den Staaten, den Völkern und Volksgruppen.

Der Text auf dieser Sonderbriefmarke erschien nach der politischen Wende im Jahre 1990. Er enthält den Leitgedanken der Charta, dem sich das Präsidium des Bundes der Vertriebenen (BDV) anschließt, das sich einstimmig dafür entschieden hat „70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ programmatisch zum Leitwort für das Jahr 2020 zu machen. Das Präsidium folgt damit dem ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, der die „Charta als Dokument des Mutes, der Weisheit und Tapferkeit“ verstand. Die Charta erschien auch auf Englisch, Polnisch, Russisch, Tschechisch und Rumänisch.

Beim Nachdenken über die Charta entdecke ich im Albert-Schweitzer-Kinderdorf-Kalender für 2020 die Worte von Albert Schweitzer: „Glück ist das einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt“. Ich möchte dieses Glück, das Schweitzer als Liebe und friedvolles Gefühl versteht,mit dem Leser und der Leserin teilen. Dieses Glücksgefühl zeigt uns die Malkunst der kleinen Kinder.

Charta der deutschen Heimatvertriebenen

Albert Schweitzer hat mit dem Herzen geschrieben und für den Nächsten in Ehrfurcht gehandelt. Sein Handeln zeigt uns, dass es stärker ist als alles, was sich zwischen Denken und Tun schieben kann. Auf dieser Spur versuche ich über die Charta nachzudenken.

Mit Freude lese ich, dass 2019 bei Staatsakten in Bayern zum Gedenken an die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation mit einfühlsamen und zu Herzen gehenden Worten gedacht wurde.

Am 30. Juni 2019 gedachte der Freistaat Bayern an diese Opfer. Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger versprach bei dieser Veranstaltung, dass Bayern die Erinnerung an die Ereignisse weiter lebendig halten wird. Der Gedenktag sei ein Beitrag zum demokratischen Bewusstsein, er diene der Völkerverständigung. Aiwanger mahnte mit eindringlichen Worten zur Verantwortung und Versöhnung. Seine Rede traf „die Herzen der Zuhörer“.

Und in seiner Festrede „60 Jahre BdV-Bayern“ erinnerte der Landesvorsitzende Christian Knauer an die Charta: Nachdem der Weg zurück in die Heimat „für unsere Landsleute“ versperrt blieb, haben sie „aus eigenen schmerzvollen Erfahrungen heraus, die Idee eines geeinten und friedlichen Europa ihrer Arbeit vorausgestellt“.

Dieses „Herzdenken“ der Politiker ist als klare Antwort auf historische Verflachung, auf aufkeimende nationalistische und rassistische Tendenzen zu verstehen, die bei vielen Menschen zu einem gleichgültigen Verhalten führen. Gleichgültigkeit aber ist Ausdruck einer Destruktivität insofern, als in ihr die Verweigerung hervortritt, an der Gestaltung der Zukunft im gemeinsamen Haus Europa mitzuwirken.

Wie diese gemeinsame Welt zu gestalten ist, darauf gibt uns die Charta bis heute eine klare Antwort. In ausländischen Presseberichten war vor 70 Jahren zu lesen, dass die Verzweiflung der Vertriebenen nicht zu beschreiben ist, die schier hoffnungslos in Lagern und Notunterkünften lebten. Aus diesem (Er-)Leiden ist die Charta geboren.

Sie lautet:

Charta der deutschen Heimatvertriebenen

Im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen, im Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis, im Bewusstsein ihres deutschen Volkstums und in der Erkenntnis der gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Völker, haben die erwählten Vertreter von Millionen Heimatvertriebenen nach reiflicher Überlegung und nach Prüfung ihres Gewissens beschlossen, dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit gegenüber eine feierliche Erklärung abzugeben, die die Pflichten und Rechte festlegt, welche die deutschen Heimatvertriebenen als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die Herbeiführung eines freien und geeinten Europas ansehen.

1. Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.

2. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.

3. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas.

Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten.
Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.
So lange dieses Recht für uns nicht verwirklicht ist, wollen wir aber nicht zur Untätigkeit verurteilt beiseite stehen, sondern in neuen, geläuterten Formen verständnisvollen und brüderlichen Zusammenlebens mit allen Gliedern unseres Volkes schaffen und wirken.

Darum fordern und verlangen wir heute wie gestern:

1. Gleiches Recht als Staatsbürger nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der Wirklichkeit des Alltags.

2. Gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des letzten Krieges auf das ganze deutsche Volk und eine ehrliche Durchführung dieses Grundsatzes.

3. Sinnvollen Einbau aller Berufsgruppen der Heimatvertriebenen in das Leben des deutschen Volkes.

4. Tätige Einschaltung der deutschen Heimatvertriebenen in den Wiederaufbau Europas.

Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden. Die Völker sollen handeln, wie es ihren christlichen Pflichten und ihrem Gewissen entspricht. Die Völker müssen erkennen, dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert. Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.
Stuttgart, den 5. August 1950

Die Unterschriften unter der Charta

Gedanken zur Charta

Am 5. August 1950 wurde die Charta im Kursaal von Stuttgart-Bad Cannstatt feierlich verlesen. Im Anschluss daran wurde das Manifest in der Villa Reitzenstein, dem Sitz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, von den Verfassern und Repräsentanten der Vertriebenen unterschrieben. Es trägt die Unterschriften der Sprecher der Landsmannschaften sowie der Vorsitzenden des Zentralverbandes der vertriebenen Deutschen und seiner Landesverbände. Für die Karpatendeutschen unterzeichnete Anton Birkner; er war Vorsitzender der Landsmannschaft.

Einen Tag später wurde das Manifest vor den ausgebrannten Fassaden des Neuen Schlosses im Herzen Stuttgarts vor etwa 150.000 Heimatvertriebenen auf einer Großkundgebung in Gegenwart von Mitgliedern der Bundesregierung, der Kirchen und der Parlamente verkündet. Eine tief beeindruckende Kulisse vor dem zerstörten Schloss!

In allen Teilen Deutschlands wurde die Charta auf Großkundgebungen bestätigt. Sie waren der Auftakt zum ersten „Tag der Heimat“. Wohl nur wenige ahnten vor 70 Jahren, dass dieses Dokument bis heute als Grundgesetz der Vertriebenen gesehen wird.

Mit dieser ersten politischen Willenskundgebung wollten die Verfasser auf das Unrecht der Vertreibung und damit gegenüber den fünf Jahre zuvor von den Besatzungsmächten beschlossenen Potsdamer Abkommen aufmerksam machen, um Wiedergutmachung bitten und den Willen zur Verständigung und zum Wiederaufbau Deutschlands und Europas bekunden. Seit dieser Zeit findet die Charta als wegweisendes Dokument über Jahrzehnte hinweg bei allen politischen Parteien Lob, Bewunderung und Dankbarkeit.

In ihrem Kern enthält die Charta, die am 5. Jahrestag des denkwürdigen Potsdamer Abkommens unterzeichnet wurde, einen Aufruf zum Verzicht auf Rache und Gewalt, trotz des eigenen gerade erlittenen Unrechts. Sie ist ein klares Bekenntnis zur Schaffung eines Vereinten Europa, zur Verständigung zwischen den Staaten, den Völkern und Volksgruppen. Damit war sie ihrer Zeit weit voraus und eine große moralische Leistung der Vertriebenen, die damals noch nicht wussten, was überhaupt mit ihnen geschehen und wie es weitergehen wird.

Bei den im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 beschlossenen Bestimmungen gaben die Westmächte ihre Zustimmung zur Ausweisung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn. Diese „Überführung“ im Namen der internationalen Gemeinschaft soll ordnungsgemäß und in humaner Weise erfolgen.

Statt einer humanen Rückführung begann der Terror einer brutalen Vertreibung für über 12 Millionen Deutsche, von denen viele die Überführung nicht überleben.

Etliche der Potsdamer Artikel waren, vor allem in Bezug auf die territorialen Regelungen nur provisorisch formuliert, im Hinblick auf einen erwarteten Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland. Dieser Vertrag kommt in den Nachkriegsjahren aber nicht zustande. Erst mit Abschluss der „Zwei-plus-Vier-Gespräche“ bekommt Deutschland einen Friedensvertrag, der wirksam wird mit dem Auslaufen der alliierten Hoheitsrechte am 3. Oktober 1990.

Unter dem Eindruck der völkerrechtswidrigen Vertreibung wurde die Charta mit Resilienz (sittlicher Widerstandskraft, Lebensmut, Lebenswillen) unterzeichnet. Wir verdanken die Charta mit ihrer christlichen Prägung vor allem Geistlichen der beiden großen Konfessionen. Sie haben mit geistiger Widerstandskraft ein einzigartiges Versöhnungs- und Friedensdokument geschaffen. Ihre weise Botschaft trägt bis heute.

Schlussbemerkung

Der Bund der Vertriebenen plante am 5. August 2020, also genau 70 Jahre nach der Charta-Unterzeichnung, den Tag der Heimat in Stuttgart mit Ansprachen von Bundesminister Horst Seehofer und Bundestagspräsident Wolfang Schäuble zu feiern. Aufgrund der COVID-19-Pandemie und der damit einhergehenden Einschränkungen wird der Festakt „70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ und damit auch die mit dieser Feier geplante Auftaktveranstaltung zum Tag der Heimat in Stuttgart erst 2021 stattfinden.

Statt des geplanten Festaktes im Stuttgarter Schloss gab es am 5. August 2020 eine feierliche Kranzniederlegung im Freien, am Denkmal der Charta der deutschen Heimatvertriebenen in Stuttgart-Bad Cannstatt. Diese fand wegen der strengen Auflagen für Veranstaltungen nur mit einigen wenigen Mitgliedern des Präsidiums statt. Das Jubiläum wird mit einer personalisierten Sonderbriefmarke im Wert von 0,80 Euro flankiert, die über die Geschäftsstelle des BDV erworben werden kann.

Prof. Dr. Ferdinand Klein