Ein Zusammentreffen im Nachtigalltal
Es war der letzte Samstag des Monats Februar. Am Tag vorher wurde unser Manuskript, das von unserer dreißigjährigen Tätigkeit im Karpatendeutschen Verein berichtet, in der Druckerei abgegeben. Die letzten Korrekturen waren abgeschlossen und so warteten wir nun auf das Endergebnis unserer langen Bemühungen. Wir fühlten eine innerliche Leere nach den Anspannungen der letzten Wochen, in denen uns die Arbeit voll ausgelastet hatte. Aber wir spürten auch eine Erleichterung, dass es nun hinter uns war und beschlossen einen Spaziergang zu machen.
Dieser führte uns auf den Friedhof im Nachtigalltal, wo unsere Vorfahren ruhen. Zuerst wollten wir nur die Gräber unserer Eltern und Großeltern besuchen, aber dann verleitete uns das schöne Wetter zu einem längeren Spaziergang. Da fanden wir eine Menge alter Preßburger Grabsteine, die uns inspirierten, jeden Namen, jede uns bekannte Familie zu besprechen, darüber zu diskutieren und uns zu erinnern: „Da schau, das war eine alte Preßburger Familie. Die hatten eine Fabrik, die eine Werkstatt. Der hat bei uns oft Reparaturen durchgeführt. Und manche haben uns oft besucht, bevor sie vertrieben wurden. Da ruht eine, die oft bei uns war, als ich (gezwungenermaßen) in unserer Wohnung eine Schneiderei mit viel Kundschaft hatte. Da gab es viele Besuche. Manche, die ihre Wohnungen oder Häuser verloren hatten, deren Verwandte in die Fremde getrieben wurden, kamen gern zu einem Plausch, besonders als unsere Oma noch lebte.“
Erinnerungen an Bekannte
Bei jedem Grabstein, an dem wir bekannte Namen fanden, fragte ich: „Kannst du dich noch an den oder jenen, die oder jene erinnern?“ Eigentlich waren es nur wage Erinnerungsblitze aus vielen Erzählungen. Das war der kleine Dicke mit Schnurrbart oder der lange Dünne ohne Bart. Der hatte so einen lustigen Hut. Die nuschelte so oder die sprach so laut, weil sie halb taub war. Oder: „Das ist ein bekannter Name! Kannst du dich nicht an den erinnern? Nein?“ „Ich auch nicht!“ „Und die hier, die kam immer in den Verein!“ Erst dann bemerkte ich, dass diese Dame schon 1945 gestorben war, wahrscheinlich handelte es sich dabei um eine schon lange tote Verwandte. Namen, die uns früher geläufig waren, tauchten plötzlich auf. Es wäre eine lange Liste: viele Freunde, Ärzte, Lehrer, Professoren, aber auch solche Persönlichkeiten, die am Geschehen in unserer Stadt maßgeblich beteiligt waren, denn Preßburg war eben eine deutsche Stadt, wie schon Präsident Masaryk einst bemerkte!
Und es ging weiter und weiter. So sind die „alten“ Preßburger an uns vorbeispaziert. Viele Erinnerungen führten uns in eine alte Zeit, bei jedem bekannten Namen haben wir uns gefreut und dabei an manche mit ihnen erlebte freudige oder auch traurige Stunden gedacht. Aber auch, dass wir uns seinerzeit von ihnen mit weinenden Augen verabschiedet haben. Damals haben wir ihnen versprochen, sie nicht zu vergessen. Und das taten wir an diesem Samstagnachmittag. So kann ein Friedhofsbesuch auch freudig sein!
Rosi Stolár–Hoffmann