Auf dem langen Weg zu einem vereinten Europa von unten
Gutes und Neues entsteht aus der Achtung des Vergangenen. Gefragt ist das achtsame Handeln. Mit dieser lebensbezogenen Erkenntnishaltung sprach ich beim Bernrieder Seminar 2013 über das Thema „karpatendeutsche Spurensuche“ und machte auch auf den Historiker Karl Schlögel aufmerksam. Auf sein ungeahnt aktuelles Buch weise ich heute hin. Es regt zum besonnenen Nachdenken an.
Karl Schlögel erhielt 2012 in der Frankfurter Paulskirche den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“. Der Preis erinnert an einen Dichter, der in seinem Werk dem Bewusstsein der Bruderschaft aller Menschen Ausdruck verliehen hat. Ich gehe vermutlich nicht fehl, wenn ich sage, dass der Historiker Karl Schlögel in gleicher Weise wie der ungarische Menschenrechtler György Konrad davon überzeugt ist, dass die westliche Kultur ausreichend Disziplin und Selbstgestaltungskraft entwickelt hat, die eigenen widersprüchlichen Bedingungen offen zu legen und aus eigener Kraft ihre Sittlichkeit schafft, die im Wesen der europäischen Demokratie, des europäischen Humanismus begründet ist.
Mit diesem Verständnis, das im europäischen Friedenshorizont gründet, versuchte ich 2013 über die karpatendeutsche Spurensuche mit Schulkindern der Zips nachzudenken.
Ein ungeahnt aktuelles Buch regt zum Nachdenken an
Auf diese besonnene Haltung des Erkennens macht uns der Geschichts- und Friedensforscher Karl Schlögel in seinem 2015 erschienenen Werk über „Ukrainische Lektionen“ eingehend aufmerksam. Karl Schlögel, geb. 1948, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Sankt Petersburg Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Er war bis 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.
Der Autor hat während zahlreicher Studienaufenthalte in Russland das traditionsreiche Land kennen und schätzen gelernt. Spätestens seit der Krim-Annexion durch Russland warnt er immer wieder vor den „Großmacht-Fantasien Putins“. Hintergrund seiner Besorgnis ist sein weiter historische Blick, der besonders die Folgen des Stalinismus für die Nachbarstaaten Russlands einbezieht.
Schlögel schrieb 2015: „Wir wissen nicht, wie der Kampf um die Ukraine ausgehen wird; ob sie sich gegen die russische Aggression behaupten oder ob sie in die Knie gehen wird, ob die Europäer, der Westen, sie verteidigen oder preisgeben wird. Nur so viel ist gewiss: Die Ukraine wird nie mehr von der Landkarte in unseren Köpfen verschwinden.“ Auf YouTube gibt Schlögel aktuelle Erläuterungen zum Russland-Ukraine-Krieg.
Prof. Dr. Ferdinand Klein