Über Grenzen hinweg Versöhnung pflegen
Die Flucht, die ich als 10-jähriges Kind aus meiner Zipser Heimat erlebte, ist der Diktatur geschuldet. Diese Erlebnisse aus meiner Kindheit sind Teil meines Denkens. Sie führen zur Frage: Kann ein demokratischer und humanistischer Impuls den kleinen und großen Diktatoren die Stirn bieten?
Wenn kleine Gruppierungen ohne demokratische Legitimierung in der offenen Gesellschaft anderen Menschen ihre Gedanken aufdrängen wollen, dann haben wir es mit kleinen Diktatoren zu tun. Sie höhlen die Demokratie aus und verlieren das Mitgefühl mit anderen und oft auch den Respekt vor ihnen, beachten nicht den größten Wert unserer Gesellschaft, der darin liegt, dass es bei allen Differenzen demokratische Prozesse sind. Es darf nicht sein, dass eine kleine Minderheit versucht, unserer Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen.
Der Einzelne trägt Verantwortung, ist Teil dieser Demokratie, die eine lebenswerte Zukunft in einer freien Gesellschaft ermöglicht und den destruktiven Auswirkungen sozialer Zersplitterung antwortet. Es geht hier nicht um Worte, sondern um Taten, die Menschen stärken und verbinden. Dieses Handeln ist notwendig, damit unsere Demokratie funktioniert. Denn nur wer sich durch sein Tun in andere einfühlen kann und unterschiedliche Perspektiven gelten lässt, wird auch bereit sein, Kompromisse zu schließen oder mitzutragen. Dies muss die demokratische Politik jeden Tag leisten und einen fairen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen finden.
Politische Konsensbildung führt zu demokratisch legitimierten Entscheidungen, die im Rahmen der Verfassungsordnung des Rechtsstaates auch von jenen getragen werden müssen, die nicht dafür gestimmt haben. Weil dieses politische Aushandeln ein hohes Gut darstellt, darf sich kein Bürger über Gesetze hinwegsetzen. Will er dies dennoch, dann entsteht Polarisierung und es breiten sich Frust und Enttäuschungen aus – und es entsteht ein Gefühl der Hilflosigkeit, des Missmuts, der Verdrossenheit.
Zum Frieden zwischen den Völkern
Und wenn große Diktatoren ihre Macht über andere Staaten ausweiten, was kann ich da tun? Als Mensch, der als kleines Kind kriegerische Auseinandersetzungen am eigenen Leib spürte, fühle ich besonders mit den russischen und ukrainischen Müttern und Vätern mit, deren Söhne im Kriegsgeschehen traumatisiert, verwundet oder getötet wurden. Diese mitfühlende Haltung folgt der Charta der deutschen Heimatvertriebenen, die auf Rache und Vergeltung verzichtet, sie macht an Staatsgrenzen nicht Halt und erlebt sich mit dem anderen Menschen verbunden. Das ist mein mahnender Ruf zum Frieden zwischen den Völkern, der nicht als Warten auf einen glücklichen Ausgang zu verstehen ist, sondern als Hoffnung im Geist der Versöhnung.
Versöhnung über alle inneren und äußeren Grenzen hinweg
Geboten ist eine Haltung der Versöhnung, die ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. Als ich nach der politischen Wende den Ruf an das Institut für Rehabilitationspädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Aufbaudirektor annahm und die älteste deutsche heilpädagogische Forschungsstätte neu zu begründen versuchte (1992-1994), drohte angesichts der vielen Herausforderungen meine Arbeit zu scheitern. Doch die noch verbliebenen wenigen jungen Mitarbeiter standen mir bis in die Nachtstunden zur Seite und stellten sich mit mir den Aufgaben. Unsere Haltung bestärkte der Text an der Tür der Dresdener Frauenkirche, den mir ein Student gab:
„Zur Versöhnung bereit sein„
Ich will, dass Ihr an der Versöhnung festhaltet. Versöhnung tut sich kund durch Schritte zum Anderen und keine Tritte, durch Hände, die sich ausstrecken. Hände sind Werkzeuge unserer Gedanken. In meinen Händen liegt es, ob ich aufbaue oder Wunden aufreiße, ob ich Menschen aufschließe oder Menschen verschließe. Zur Versöhnung bereit sein mit Fingerspitzengefühl und Verstand, mit Händen und Sinnen. Versöhnung beginnt dort, wo wir unsere Trauer verarbeiten und über den Schmerz uns die Hände reichen.“
In diesen Worten wird das Unsichtbare erfahren und der Mensch fühlt sich getragen von etwas, was er nicht sieht, und was doch da ist, von oben her. Ich vermute, auf diesen Schöpfungserfahrungen gründet die Geschichte der Menschheit. Hier begegnet sich der Mensch in Übereinstimmung mit sich: Er kann dem anderen Menschen wirklich begegnen und eine Kultur des Umgangs pflegen – über alle Grenzen hinweg. Das erinnert mich an mehrere Bilder, die mir Studierende des Halleschen Instituts schenkten.
Wir sehen und erkennen
In einer Welt der Starken und Mächtigen breitet sich Verrohung aus und schleichend gewöhnen sich die Menschen daran. Dagegen gibt es ein wirksames Mittel: Freiheit und Verantwortung ist eine niemals endende Aufgabe. Hier bleiben wir auf dem Weg des Findens der versöhnenden Haltung. Darauf macht uns die Humanwissenschaft unter drei Aspekten aufmerksam: Lerne den Anderen in seiner Fremdheit sehen, lerne ihn von seinen Voraussetzungen aus verstehen und lerne dich selbst erst sehen, indem du dich vom Anderen her siehst.
Finden wir in dieser dreifachen Lern-Haltung nicht das in der Welt wirkende Gute, das im Schöpfungsgedanken gründet und auf das uns die durch die Um- und Mitwelt noch nicht verdorbenen kleinen Kinder aufmerksam machen?