Zeitzeugengespräch im 35. Jahr nach dem Mauerfall
Im Jahr 2024 jährt sich der Fall der Berliner Mauer schon zum 35. Mal. Zu diesem Anlass blickte eine Geschichtsklasse der Deutsch-Profil-Schule (DPS) in Deutschendorf/Poprad am 15. April zurück in die Vergangenheit. Neben den 16-jährigen Jugendlichen und ihren Lehrerinnen war auch ein besonderer Gast geladen.
Mit Brot und Salz wurde Botschafter a.D. Dr. Axel Hartmann an der DPS empfangen. Für zwei Schulstunden nahm er sich die Zeit, um den Schülern alle Fragen zu beantworten, über seine Tätigkeit als Leiter der Konsularabteilung der Bundesrepublik Deutschland in Budapest und als Beamter im Kanzleramt der Regierung Helmut Kohls in den 1980er Jahren. Hartmann, der von 2009 bis 2013 ebenfalls deutscher Botschafter in der Slowakei war, konnte während seiner Zeit in Ungarn etwa 1000 Asylsuchenden DDR-Bürgern bei der Flucht in den Westen helfen. Mit den Schülern der DPS teilte er seine Erinnerungen.
Leiter der Konsularabteilung in Budapest
Die Schüler hatten sich gut auf den Dialog mit Herrn Hartmann vorbereitet. Nachdem sie einen Steckbrief über die vielen Stationen seiner beruflichen Laufbahn erstellt hatten, wollten sie genau wissen, wie Axel Hartmann DDR-Bürgern helfen konnte, um in den Westen zu gelangen. Hartmann war von 1982 bis 1985 Leiter der Konsularabteilung in Budapest und durfte nach damaliger Gesetzeslage DDR-Bürger wie Westdeutsche behandeln, wenn sie um Asyl baten. Er erklärte, dass es im Jahr 1985 schätzungsweise etwa 180.000 ausreisewillige DDR-Bürger gegeben habe. Die aus Ostdeutschland stammende Geschichtslehrerin der DPS, Daniela Leyer, erinnert sich: „Da waren auch meine Eltern dabei.“
Für Ostdeutsche war der Weg über den Eisernen Vorhang riskant und lebensgefährlich. Neben den 3,4 Milliarden D-Mark, die die westdeutsche Regierung für einige Freikäufe von DDR-Bürgern aufgewendet hatte, erzählte Hartmann von verschiedenen Fluchtversuchen über Ungarn, bei denen sich verzweifelte Flüchtlinge etwa in Benzintanks von Fahrzeugen versteckten oder ihren Reisepass mit einem vermeintlichen Doppelgänger aus Westdeutschland austauschten, um unbemerkt auszureisen. Nicht alle Fluchtversuche gingen glücklich aus.
Weil Axel Hartmann fluchtwilligen DDR-Bürgern Informationen über Grenzübergänge gab und aktiv zur Flucht verhalf, dauerte es nicht lange, bis er schließlich ins Visier der ostdeutschen Staatssicherheit (Stasi) geriet. Schon vorab teilte Hartmann die Aufzeichnungen der Stasi über seine Person mit den Schülern. So ist in seiner Stasi-Akte etwa dokumentiert, wie er auf offener Straße mit seiner Frau von Agenten des Geheimdienstes verfolgt und fotografiert wurde. Ebenfalls wurde festgehalten, mit welchen Leuten er sich traf und mit wem er telefonierte. „Zum Glück gab es aber einen abhörsicheren Raum in der Botschaft“, sagt er heute.
Die Schüler interessierten sich dafür, woran er erkannte, dass er ausspioniert wurde. Daraufhin erzählte Hartmann von einer Autoreise von Braunschweig nach Magdeburg über die innerdeutsche Grenze. Direkt nach dem Übertritt in den Osten hätten bereits drei Fahrzeuge auf ihn gewartet. Die wenig subtilen Agenten der Stasi konnten laut dem ehemaligen Botschafter in ihrem Wartburg und zwei Ladas nach einem Katz-und-Maus-Spiel zwischen Abbremsen und Beschleunigen erst abgeschüttelt werden, nachdem Hartmann in das falsche Ende einer Einbahnstraße abbog. Danach dokumentierten die Agenten der Stasi ein rowdyhaftes Fahrverhalten in seiner Akte.
Im Kanzleramt Kohls
Ab 1987 war Axel Hartmann als Beamter in der außenpolitischen Abteilung im Bundeskanzleramt in Bonn tätig. Den Mauerfall selbst erlebte er allerdings mit etwas Verzögerung. So endete sein Arbeitstag am 9. November 1989 früher, denn er wollte den Geburtstag seines Kindes feiern und etwas früher zuhause sein. Sein Vorgesetzter schickte ihn nach Hause, denn er war davon überzeugt, dass „heute eh nichts passiert“. So erfuhr Hartmann erst nach Ende des Kindergeburtstags, nachts im Fernsehen, über die Vorgänge in Berlin. Wie so viele Deutsche konnte er nicht glauben, was er sah, und rief sofort seine Kollegen im Kanzleramt an.
Auch Kathrin Beer, Leiterin der deutschsprachigen Abteilung der DPS und ebenfalls am Zeitzeugengespräch beteiligt, erinnert sich sehr gut an die Nacht des 9. Novembers. Denn in jener Nacht war sie mit einer Dresdner Schulklasse auf Exkursion in Berlin. Erst am nächsten Tag, nachdem sie zurück in Sachsen waren, erfuhr die Reisegruppe von den Ereignissen der letzten Nacht. „Zum Glück!“, sagt sie heute, denn wenn ihre Schüler von der Grenzöffnung erfahren hätten, wären sie wohl weg gewesen.
Die Bedeutung eines geeinten Europas
Mit all den Freizügigkeiten, die uns die Europäische Union heute bietet, nehmen wir viele unserer Freiheiten als selbstverständlich hin. In einigen Familien erlebte nur noch die ältere Generation die Teilung Europas selbst mit, weshalb es immer wichtiger wird, die Erinnerung an den Wert eines geeinten Europas wach zu halten. Nach dem Ende der zwei Schulstunden in Deutschendorf waren noch längst nicht alle Fragen beantwortet. Deshalb soll es eine baldige Fortsetzung des Zeitzeugengesprächs nach den Sommerferien geben.
Peter Mons