Anna Mitrikova Göllnitz

Anna Mitríková aus Göllnitz zum 86. Geburtstag

Anna Mitríková, ein Zipser Urgestein und Vorstandsmitglied der OG Göllnitz des Karpatendeutschen Vereins, feierte am 31. Juli 2021 ihren 86. Geburtstag. In dankbarer Erinnerung an Begegnungen in Göllnitz, Einsiedel und Schwedler wünschen Dir Karl Kraus, Hanka und ich sowie viele Freunde und Weggefährten, weiterhin erlebnisreiche und unbeschwerte Stunden im Kreise Deiner Lieben.

Liebe Anna! Deine Lebensgeschichte verstehe ich als Geschenk für Jung und Alt. Sie lädt zum Nachdenken über ein sinnerfülltes Leben ein. Beim Literaturkränzchen in Einsiedel an der Göllnitz im Herbst 2014 habe ich zum Thema „Auf dem Weg zu einem sinnerfüllten Leben“ persönliche Denkanstöße gegeben, über die wir weit über den üblichen Zeitrahmen hinaus, gemeinsam nachgedacht haben. Anna Mitríková arbeitete ihren Gesprächsbeitrag aus. Sie schrieb mir: „Den Text ‘Auf dem Weg zu einem sinnerfüllten Leben‘ habe ich mehrmals studiert und möchte auch etwas dazu sagen. Ich weiß nicht, ob jemand auf meine Lebensgeschichte neugierig ist, denn ich gehöre nicht zu den Vertriebenen, aber zu den Gebliebenen. Zur Evakuierung waren ich und mein älterer Bruder schon im September 1944 vorbereitet. Die Mutter schickte uns aber zu ihren Bekannten bei Prešov ins Dorf Žipov, wo wir zwei Wochen waren. Bald mussten wir alle, das heißt die ganze Familie, das Haus verlassen. Wir kamen vor Weihnachten wieder zu Hause an, als bei uns schon deutsche Soldaten einquartiert waren. So haben wir die Front und die Befreiung zu Hause überlebt. Die zweite Katastrophe kam im Jahre 1946 als uns das Vertreiben drohte. Den Beamten sagte meine Mutter, dass unser Zuhause in Göllnitz ist, sie können uns alle erschießen, wir bleiben zu Hause. Vielleicht war unsere Situation deshalb so schwer, weil unser Vater nicht mehr lebte. Unter den Beamten und Polizisten waren auch Bekannte und sie wussten, dass meine Mutter mit fünf Kindern nur schwer die Vertreibung überleben würde. So sind wir zu Hause geblieben, hatten aber keine Staatsbürgerschaft und das ganze Eigentum wurde konfisziert.

Jeder von uns hat seine eigene Geschichte und ich hielt es damals für ganz normal. Ich fand keinen Grund darüber nachzudenken, ob es auch anders sein könnte. Erst später kam die Zeit zum Überlegen über die Möglichkeit, dass meine Vergangenheit ganz anders hätte sein können. Wenn ich über den eigenen Lebenssinn nachdachte, so war mir klar, dass ich auch zu den bezeichneten Kriegskindern gehöre oder wie es auch Gorbatschow genannt hatte, zu den „gebrannten Kindern“. Ich selbst hatte als Kind keine Tür vor dem Leben geschlossen. Über den Sinn meines Lebens hatte ich damals nicht nachgedacht. Die schreckliche Situation des Krieges, der Vertreibung konnte ich nicht verstehen.

Erst später tat es mir leid, dass uns das Deutschsprechen verboten war. In die Stadt kamen viele fremde Leute, nichts war so wie vorher. Trotzdem war meine Kindheit schön. Ich kam in die slowakische Schule, hatte aber Glück, dass ich in der Nachbarschaft drei slowakische Mädchen hatte und ihre Lesebücher kannte. So besuchte ich drei Monate die vierte Klasse. Fast alles lernte ich auswendig, denn ich wollte den slowakischen Kindern gleichen und mein Lebenssinn war, sie auch zu übertreffen. In der fünften Klasse war es schlecht. Der Lehrer terrorisierte alle deutschen Kinder, immer waren wir Germanen. Die Bürgerschule besuchten so viele Kinder aus allen Dörfern, unter uns waren auch Repatrianten aus Ungarn, so war es ganz lustig. Am Gymnasium hatte ich gute Mitschüler, die dasselbe Schicksal wie ich hatten und wir sind bis jetzt Freunde geblieben. Leider wurden nur Russisch, Französisch und Latein als Fremdsprachen angeboten. Erst nach mehreren Jahren konnten die Studenten auch die deutsche Sprache lernen. In den Ferien machten wir die Oktava (österr. 8. Klasse des Gymnasiums; F. K.) und Ende August absolvierten wir das Studium ein Jahr früher.

Die Plätze an den Hochschulen waren fast alle besetzt, so wählte ich an der Pädagogischen Schule das Fach Chemie/Biologie. Ich unterrichtete schon einige Jahre, aber es tat mir immer leid, dass ich alles von meiner Kindheit vergessen hatte, so wollte ich extern die deutsche Sprache studieren. Vom Schulamt habe ich dafür keine Bewilligung bekommen. Es wurde mir gesagt, dass man Göllnitz abgermanisieren muss. Trotzdem studierte ich vier Jahre und zur Staatsprüfung kam auch meine Bewilligung. Vielleicht habe ich damals einen meiner Lebenssinne erfüllt. Zu den wichtigsten aber gehörte meine Familie und meine Arbeit. Der größte Lebensfehler war, dass ich mit meinen Kindern nicht deutsch gesprochen habe. Sie machen mir auch jetzt Vorwürfe, dass sie besser Englisch als Deutsch sprechen. Das hing aber auch mit der gemischten Ehe zusammen, auch wenn mein Mann nichts dagegen hatte.

Ich bin stolz, wenn ich meine dankbaren Schüler treffe, denen ich viele Jahre ein wenig die deutsche Sprache beigebracht habe. Auch jetzt arbeiten schon viele Krankenschwestern in Österreich, die bei mir wenigstens die grundlegenden Konversationssätze gelernt haben. Viele Jahre unterrichtete ich und niemand hatte etwas gegen mich. Erst als ich Direktorin der „Schule in der Natur“ wurde, kamen anonyme Briefe, dass ich ein germanisch-faschistisches Element bin. Zum Glück arbeiteten auch am Schulamt schon verständige Leute und ich war bis zu meiner Rente Direktorin.“

Anna Mitrikova Göllnitz
Anna Mitríková feierte Ende Juli ihren 86. Geburtstag.

Meine Antwort: Deine Lebensgeschichte ist ein redliches und ehrliches Dokument. Es zeigt, wie Du das Leben zum eigenen Wohl, zum Wohl Deiner Familie und vieler junger Menschen gelebt hast und lebst. Deine anschaulichen Worte zum Lebenssinn sind ein wichtiges Dokument. Es lehrt uns, wie die Daheimgebliebenen ihr Leben gemeistert und „Ja“ zu ihrem Schicksal gesagt haben. Dein Leben ist bis heute von Güte, Humor und Heiterkeit durchdrungen. Danke für Deine Worte.“

Ferdinand Klein, Prof. Dr. Dr.