Aufgewirbeltes Zeitpanorama
Es fällt mir wirklich schwerer als in früheren Tagen, in einem kurzen Artikel noch einmal dieses durch die Coronakrise gezeichnete, dynamisch verlaufende Jahr vor dem geistigen Auge zu durchlaufen. Nicht, weil es mir dabei an notwendigem Stoff mangeln würde. Im Gegenteil: Das Jahr 2020 hat die Coronakrise so dramatisch ins Rollen gebracht, dass man eine ganze Bibliothek darüber schreiben könnte.
Vieles von dem, was sich in diesem bereits vergangenen Jahresabschnitt ereignete, liegt uns heute schon so fern, als wenn Jahre oder gar Jahrzehnte verstrichen wären. Es ist ein Jahr, das bereits unauslöschlich in das Buch der Geschichte eingegangen ist. Es wird gewiss noch viele Jahrzehnte lang Geschichtsforschern Material und Unterlage für eine Unzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen geben. Sie werden all das, was wir mit heißen, glühenden Herzen erlebt und gestaltet haben, mit wissenschaftlicher Objektivität kritisch untersuchen und ihm trotzdem vermutlich nicht ganz gerecht werden. Aber alle werden doch konstatieren müssen, dass es eine große und bewegte Zeit war und dabei wahre Geschichte gemacht wurde, dass es das Gesicht Europas geändert und einzelnen Erdteilen neue Umrisse gegeben hat. Mehr noch: Was die Bevölkerung der Slowakei und Europas betrifft, wird man feststellen, dass das öffentliche Leben sich im Jahre 2020 endgültig zu festigen begann.
Ein Jahr, das in die Geschichte eingeht
Wenn dieses Jahr einmal mit wissenschaftlichem Fleiß von der Geschichtsschreibung untersucht wird, werden Sorgen und Kümmernisse, wie wir sie jetzt durchmachen, ins neue und wieder belebende geschichtliche Beurteilungslicht treten, damit die Geschichte ihr Urteil über unsere Zeit und jeden Zeitgenossen zu sprechen vermag. Sie erst wird den Anteil festlegen, den jeder einzelne an diesem epochalen Ringen unserer Generation hat.
Überblick aus erhöhter Warte
Wir bemühen uns jedoch, von dieser Stelle aus die Dinge von erhöhter Warte zu sehen. Wir beschreiben nicht das, was gestern war oder was morgen kommen wird; wir versuchen Sorgen und den Dingen auf den Grund zu gehen und in den erregenden und vielfach auch schmerzvollen Vorgängen unserer Zeit einen tieferen Sinn zu erkennen. Das Schicksal geht eben nicht nur gerade, sondern auch krumme Wege. Aber alle führen sie zu einem Ziel.
Vernebelung des Lichts am Horizont
Im Dezember 2019 haben wir den Marsch in die dunkle Ungewissheit angetreten. Damals wusste noch niemand, wohin die Reise geht. Heute sehen wir bereits Licht am Horizont. Wir sprechen und schreiben zwar viel von dieser unausweichlichen und harten Notwendigkeit. Aber handeln wir auch alle immer demgemäß? Diese Frage muss bei einem gewissen Teil unserer Bevölkerung leider verneint werden. Der geht an seinen entsprechenden Aufgaben und Sorgen lustig vorbei und nimmt sich hinzu das Recht heraus, nicht jedwedem moralischen Zwang zu gehorchen.
Das schafft auf die Dauer eine Verschiedenheit der Pflichten, die unerträglich ist. Die Regierung ist auch in dieser Coronakrise nicht in der Lage, alle staatsbürgerlichen Verpflichtungen in Gesetzesform zu fassen. Sehr viel muss sie dem Anstand, der Einsicht und dem pflichtbewussten Empfinden des einzelnen überlassen. Sie kann ja beispielsweise gesetzlich kaum festlegen, wer heute noch mit der Eisenbahn fahren darf oder wer einen Anspruch auf einen Platz in einem Sommer- oder Winterkurort hat und wer nicht. Sie appelliert deshalb an die Vernunft und an den guten Willen jedes einzelnen.
Moralischer Appell
Die weitaus überwiegende Mehrheit fügt sich diesem moralischen Appell – doch nicht alle. Weil die Fleißigen und Anständigen — das sind bezeichnenderweise immer dieselben — auf ihren Urlaub, zu dem sie jedes Anrecht besitzen, verzichten, können etliche Faulenzer umso länger in ihren dauerhaften Pflichten-Urlaub fahren.
Unterdessen gibt es Dritte, die wenig oder gar nichts tun und nur zuschauen. Sie warten auf die einschlägigen Gesetze und sind diese da, dann beschäftigen sie sich in der Hauptsache mit ihrer Auslegung und prüfen mit Fleiß und Bosheit, ob sie für sie nicht vielleicht doch noch eine Lücke zum Entschlüpfen offen lassen.
Das muss aufhören! Man muss Eingeweide und Nerven aus Eisen, aber zugleich ein Herz voller Güte und Wärme besitzen. Es gibt nur eine Sünde, sagt der Philosoph, und das ist die Feigheit. Darum lasset uns tapferen Herzens sein!
Empfehlung für die Zukunft
Diese Epidemie kann schlagartig oder schrittweise ihr Ende nehmen. In beiden Fällen ist jedoch anzuraten, bei jeder Vorgehensweise eher Vorsicht walten zu lassen und Panik zu meiden. Nicht nur unbedingt auf einen Impfstoff oder ein hergezaubertes Wundermittel alles zu setzen, sondern eine verantwortungsvolle Lebensweise zu führen, sich gesund zu ernähren und die eigene Immunität zu stärken, sich ausgiebig zu bewegen, aber auch an und mit sich selbst zu arbeiten und überlegen, wo und wie man vielleicht seinen eigenen Beitrag zur Pandemie-Bekämpfung leisten könnte.
Demut kann nicht schaden
Wollen wir also nicht, dass sich diese ganze Situation wiederholt, so sollten wir aus den bitteren Erfahrungen dieser Tage möglichst viel dazu lernen.
Sonst taucht, wie ein Schlag aus heiterem Himmel, wieder einmal irgendwer oder irgendwas auf, das uns leicht die eigenen Bedingungen aufzuzwingen vermag und in ein paar Jahren, ja vielleicht nur Monaten oder sogar Wochen stünden wir wieder auf einem neuen Jammerboden der noch schlimmer sein und werden könnte wie der von heute.
Oswald Lipták