Der Aufstieg eines Flüchtlingskindes – Prof. Dr. Dietmar Samulski
Der 20. Juni ist der Weltflüchtlingstag. Rund um den Globus finden aus diesem Anlass Veranstaltungen statt und Geschichten werden erzählt, um auf das Thema Migration aufmerksam zu machen. Lesen Sie hier die ungewöhnliche Geschichte von Dietmar Samulski, einem Flüchtlingskind, dessen Eltern aus Schlesien nach Deutschland kamen.
Die Eltern von Dietmar Samulski sind Flüchtlinge aus Schlesien. Es verschlägt sie ins bergische Gummersbach. Hier wird 1950 Sohn Dietmar geboren, im Taxi, auf der Fahrt in die Klinik. „Ich wollte schon immer der Erste sein“ sagt er dazu. Am ersten Schultag hat er ein prägendes Erlebnis: Seine Mitschüler hänseln ihn, entreißen ihm gar seine Schultüte. Warum?
Es ist sein polnischer Name. Seine innere Reaktion: Ich lasse mich nicht unterkriegen, ich will dazugehören. Und so handelt er dann auch. Er glänzt mit schulischen und sportlichen Leistungen. Wird als Flüchtlingskind Prinz im Kinderkarneval. Ein ungewöhnlicher Vorgang damals. Er nimmt als Sprinter an den Deutschen Junioren Leichtathletik Meisterschaften teil und kommt als Außenseiter ins Finale. In der Hallenhandball Schülermannschaft des VFL Gummersbach spielt er gemeinsam mit dem späteren Bundestrainer Heiner Brand. Er genießt Anerkennung, gehört dazu.
Von Deutschland nach Kolumbien
Nach dem Abitur geht er zur Polizei und wird fast der jüngste Kriminalkommissar in Nordrhein-Westfalen. Er bricht aber ab und wendet sich der Sportwissenschaft zu. Dieser Zwischenschritt bei der Polizei soll, wie er berichtet, ihm später das Leben retten. Denn nach dem Abschluss eines Sportlehrerstudiums an der Sporthochschule Köln und eines Psychologiestudiums an der Uni Bonn geht er für ein Projekt der GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) für 5 Jahre nach Kolumbien. Und hier geschieht es: Dietmar Samulski ist mit seinem VW Kombi auf dem Weg zur Universität. Für heute ist ein Besuch des amerikanischen Konsuls angekündigt.
Plötzlich erscheinen mehrere schwerbewaffnete, mit Kapuzen getarnte Terroristen vor ihm. Ein Gegenstand fliegt durch das geöffnete Beifahrerfenster. Geistesgegenwärtig öffnet er die Tür und lässt sich gekonnt aus dem rollenden Wagen fallen, der nach wenigen Metern von einer Explosion zerrissen wird. Die Terroristen wollen ihn entführen, er wehrt sich, schreit sie an. Er sei nicht der Konsul. Schließlich lassen sie von ihm ab, denn immer mehr Neugierige nähern sich dem Tatort. Die Situation schnell erfassen und sofort das Richtige tun, das habe er bei der Polizei gelernt und das gelte auch in vielen Sportarten.
Der Beginn einer lebenslangen Freundschaft
Er kehrt zurück an die Sporthochschule nach Köln und promoviert 1986 mit einer Arbeit zu Techniken der Selbstmotivierung, die von der Hochschule mit dem Förderpreis für herausragende wissenschaftliche Leistungen ausgezeichnet wird. Es zieht ihn wieder nach Südamerika, nach Brasilien. 1987 nimmt er auf Vermittlung des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) eine Gastprofessur an der UFMG (Universidade Federal de Minas Gerais) in Belo Horizonte an. Hier kreuzen sich unsere Wege.
Als ich mit meiner Familie 1986 in Belo Horizonte eintraf, befestigten wir an der Grundstückseinfahrt aus Verbundenheit zu unserem Herkunftsort Düsseldorf eine originalgetreue Nachbildung des Straßenschildes „Bolkerstraße“, eine berühmte Gasse in der weltbekannten Düsseldorfer Altstadt. Eines Tages klingelt es. Ein sympathischer junger Mann stellt sich vor und sagt: „Ich bin Dietmar Samulski, Sie kommen doch sicher aus Deutschland.“ So begann eine lebenslange Freundschaft.
Karriere als Sportpsychologe
Hier in Belo Horizonte entwickelt sich Prof. Samulski zum führenden Sportpsychologen in Brasilien. Nach fünf Jahren wird ihm eine ordentliche Professur angetragen. Sein in Portugiesisch verfasstes Buch „Psicologia do Esporte“ wurde damals schon zum Standardwerk der Sportpsychologie nicht nur in Brasilien. In seiner 30-jährigen Berufslaufbahn veröffentlicht er 150 Schriften, darunter 16 Bücher auf Portugiesisch, Spanisch, Englisch und Deutsch. Schnell wird er auch über die Grenzen hinaus bekannt. Die wissenschaftlichen Verbände für Sportpsychologie in Brasilien und Südamerika berufen ihn zu ihren Präsidenten. In weiteren international tätigen Verbänden, so in der „Internationalen Gesellschaft für Sportpsychologie“ arbeitet er als Vorstandsmitglied mit. Zahlreiche Einladungen von Universitäten führen ihn weltweit zu Vortrags- und Lehrveranstaltungen.
Die brasilianischen Sportverbände suchen seine Mitarbeit. So berät er unter anderen die Nationalmannschaften im Volleyball, Handball, Schwimmen. Die Fußball-Erstligamannschaft „Cruzeiro Belo Horizonte“ betreut er für eine Spielzeit als Mentaltrainer. In dieser Saison werden die „Cruzeirenses“ brasilianischer Meister. Sicher kein Zufall.
Bei den Paralympics und der Olympiade
Im Jahr 2000 nimmt Dr. Samulski zunächst nur zögerlich die Einladung zur Durchführung eines Seminars für Sportler mit Behinderung in Rio de Janeiro an. Er ist beeindruckt und zögert nicht, als ihm anschließend die sportpsychologische Betreuung der brasilianischen Mannschaft für die Paralympics in Australien angetragen wird. Seine Arbeit überzeugt, so dass er nach vier Jahren in Athen für beide Olympiateams Brasiliens zuständig ist. Auch 2008 in Peking begleitet er die behinderten Sportler, nur ist er inzwischen kein Einzelkämpfer mehr, eine ganze Gruppe teilt sich die Arbeit. Der Erfolg bleibt nicht aus, stolz berichtet Dr. Samulski, dass Brasilien in Peking mit 16 Goldmedaillen den neunten Rang im Medaillenspiegel errang, zwei Plätze vor Deutschland, während es 2000 in Sydney für die brasilianische Mannschaft der behinderten Sportler nur zum 24. Rang gereicht hatte.
Erfahrungen aus Kindheit und Jugend wirken nach
Maßgeblich für seine Erfolge in Brasilien sind zwar seine fachlichen Qualitäten, aber er weist immer wieder daraufhin, dass er sich ständig bemüht habe, die Lebensauffassung und Denkweise seiner brasilianischen Mitmenschen zu verstehen und zu berücksichtigen. Seiner Meinung nach ergänzen sich die deutschen Eigenschaften Disziplin, Leistungs- und Siegeswille gut mit brasilianischer Lebensfreude, Toleranz und Einfallsreichtum. Zum Thema Eingliederung sind ihm da seine Erfahrungen in Kindheit und Jugend in Gummersbach sehr zustatten gekommen.
Im 61. Lebensjahr muss er aufgrund einer schweren Krebserkrankung seinen Hochschuldienst beenden. Er ist aber wissenschaftlich weiter aktiv und kämpft in bewunderungswürdiger Weise gegen die Krankheit an. Zusammen mit seinem Chirurgen arbeitet er an einem „Handbuch zur Verbesserung der Lebensqualität von Krebspatienten“ mit praktischen Ratschlägen für die Entwicklung einer positiven und aktiven Lebenseinstellung. Bei unserem letzten Treffen sagt er aber auch: „Ohne Gottvertrauen und ohne Hilfe der Familie geht es nicht“. Im Dezember 2012 verliert Dietmar Samulski den Kampf gegen den Krebs: das ehemalige Flüchtlingskind, der erfolgreiche Sportwissenschaftler, Lehrer und Sportler, der rastlose und ehrgeizige, der lebensfrohe und humorvolle, liebenswerte Mensch.