Die tapfere Pfarrerin Emilia Hreško wird 90
Sie wohnt in Kaschau bei Tochter und Schwiegersohn Samuel Linkesch, der als Senior für zehn evangelische Gemeinden zuständig ist. Hier besuche ich sie mit meiner Frau. Anlass ist nicht ihr anstehender Geburtstag, den erwähnt sie nebenbei erst während unseres Gesprächs, sondern ich möchte Genaueres erfahren über ein Ereignis aus ihrer Vergangenheit, das sie und ihre drei Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, und vor allem ihren vor drei Jahren verstorbenen Mann sowie die ganze Gemeinde in Einsiedel sowie die Nachbargemeinden stark betroffen hat.
1985 besuche ich mit meinem damals 11-jährigen Sohn Matthias meine Heimatstadt Einsiedel an der Göllnitz/Mníšek nad Hnilcom. Hier wirkt schon seit 1962, also fast 24 Jahre, Michal Hreško als Pfarrer. Zu unserem Programm gehört auch ein Besuch des Gottesdienstes, in dem unser Sohn den Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ mit seiner Trompete solo spielen darf. Pfarrer Hreško begrüßt uns öffentlich und wir besuchen ihn auch zu Hause. Er schenkt mir ein altes Gesangbuch von 1827, versehen mit einem gestochen scharfen handschriftlichen Eintrag in Sütterlin Schrift: „Eigenthum der evang. Kirchengemeinde A.B. zu Einsiedel“. Ein schönes Geschenk, eine schöne Reise.
Umso betroffener war ich, als ich am 18. Januar 1986 in der FAZ, der bedeutendsten überregionalen Tageszeitung in Deutschland, lesen muss: „Tschechischer Pfarrer verhaftet“. Pfarrer Hreško war zwar Slowake, aber solche Unterschiede wurden damals nicht so genau genommen. Es wird berichtet, dass er seit 23.Oktober 1985 in Haft ist, also nur wenige Wochen nach unserem Besuch in Einsiedel. Ein bewegender Leserbrief von einem Gemeindemitglied aus Einsiedel ist Bestandteil der Veröffentlichung:
„Heute ist Sonntag und in Nalepkovo (Wagendrüssel) sollte die erneuerte Kirche eingeweiht werden. Leider kann das nicht sein, weil uns in letzter Zeit Schlechtes betroffen hat. Unser Seelsorger ist in Košice (Kaschau) schon drei Wochen interniert. Ich kann nicht viel darüber schreiben, wir wissen noch nicht das Richtige, nur das, dass er sich mit der Jugend befasst hat und sie zum Glauben erzogen hat. Seine Frau hat heute bei uns den Gottesdienst abhalten sollen, leider haben sie es auch ihr verboten. So sind wir jetzt mit sieben Gemeinden auf den Konsenior Valentin angewiesen. Er kann das aber unmöglich bestreiten, so müssen wir vorläufig alleine abhalten. Heute haben einige von uns Gottes Wort und eine passende Predigt vorgelesen, und unter Begleitung des Kantors auf dem Harmonium haben wir gesungen. Wir waren nur 19 Leute, leider haben einige Angst bekommen. Es ist für uns eine schwere Zeit, so wie sie unsere Gemeinde vielleicht schon in der Zeit der Gegenreformation erlebte. Wir legen alles in Gottes Hände und hoffen auf seine Hilfe in der Hoffnung: Wenn Gott mit uns ist, was kann der Mensch uns machen!“
Frau Hreško bestätigt mein ungutes Gefühl. Tatsächlich waren seine „Westkontakte“ Bestandteil der langen Liste von Anschuldigungen gegen ihren Mann. An erster Stelle stand aber der Vorwurf gegen das Gesetz verstoßen zu haben, indem er in Einsiedel Jugendcamps mit Teilnehmern aus der ganzen Tschechoslowakei veranstaltete, auf denen er natürlich auch Gottes Wort verkündete. Gottesdienste außerhalb von kirchlichen Räumen waren aber verboten. Zudem wurde ihm zur Last gelegt, aus dem Westen stammende Kinderbibeln (Comic-Hefte mit biblischem Inhalt) verteilt zu haben. Ihm war schon klar, dass er sich im Visier der Geheimpolizei befindet; Ratschläge, doch eine Zeit lang kürzer zu treten lehnt der unbeugsame Diener Gottes ab. Unbeirrt geht er seinen Weg. So wird er verhaftet.
Bezeichnend für seine Tatkraft: Als die Geheimpolizisten erscheinen, um ihn mitzunehmen, hat er farbbespritzte Arbeitskleidung an, denn er kommt gerade aus Wagendrüssel (Nalepkovo), wo er mit Pinsel und Farbeimer persönlich an der fast abgeschlossenen Renovierung der Kirche Hand anlegte. Er wird nach Göllnitz und von dort nach Kaschau ins Gefängnis gebracht. Es folgen lange Verhöre in der gut zweimonatigen Untersuchungshaft. Eine Anklage wird schließlich nicht erhoben. Pfarrerin Hreško führt das darauf zurück, dass das Regime mögliche Ansehensverluste im westlichen Ausland befürchtete. Dort hatte seine Verhaftung schon öffentliche Aufmerksamkeit gefunden, nicht zuletzt durch die Veröffentlichung in der FAZ.
Das Leben danach war aber trotzdem sehr schwer. Pfarrer Hreško wird mit Familie strafversetzt in eine für ihren sehr hohen Atheisten Anteil bekannte Gemeinde in der Nähe von Nitra. Eine schikanöse Totalüberwachung schränkt seine Beweglichkeit sehr ein. Er muss sich täglich bei der Polizei melden und für jede Reise außerhalb der Gemeinde Genehmigungen einholen. Das dauert bis zu seiner Pensionierung. Dann zieht die Familie nach Kaschau, wo er noch zwei Jahre als Pfarrer tätig ist. Beim Neubau der Kirche im Stadtteil Terasa wirkt er bis ins hohe Alter mit und wird sogar als einer der besten „Brigadisten“ ausgezeichnet.
Wir sind sicher nicht die Ersten, die beeindruckt von den guten Deutschkenntnissen der angehenden Jubilarin sind. Sie erklärt es uns: Sie musste im damals von Deutschen beherrschten Mährisch-Schlesien, in Třinec nahe der polnischen Grenze, Deutsch in der Schule lernen. Auch hat ihr die Beschäftigung mit den in deutscher Sprache verfassten Reformationsschriften während des Theologiestudiums sehr geholfen.
Ich glaube aber, dass ihr großes Sprachtalent eine wichtige Rolle gespielt hat. So profitierte auch die Gemeinde in Einsiedel davon. Frau Hreško übersetzte die Predigten ihres Mannes ins Deutsche, versah den Text mit Zeichen für die richtige Betonung und so konnte einmal im Monat der Gottesdienst in Deutsch abgehalten werden. Aber ihr Einsatz an der Seite ihres Mannes war noch sehr viel umfangreicher. Hatte er doch Einsiedel und sechs weitere Gemeinden zu betreuen.
Sie kümmert sich um den Posaunenchor, leitet den Kirchenchor und hält auch Gottesdienste, alles ehrenamtlich. Zudem muss sie sich ja auch noch um ihre drei Kinder kümmern. Übrigens hat sie später in Kaschau auch Gottesdienste in Deutsch gehalten, zur Freude vieler Gemeindemitglieder.
Auch heute hat sie sich noch nicht zur Ruhe gesetzt. Beiläufig erzählt sie, dass sie vor kurzem noch einen Gottesdienst gehalten hat. Sie zeigt uns das Ergebnis ihrer derzeitigen Hauptbeschäftigung: Sie näht aus von Gemeindemitgliedern gespendeten Stoffresten bunte Decken für Kinder in Afrika.
Am Ende des Gesprächs sagt sie: „Von Freunden verabschiede ich mich immer mit einem Gebet“. Sie findet bewegende Worte und bringt auch zum Ausdruck, dass sie allen verzeiht, die ihr Leid zugefügt haben. Wir sind tief beeindruckt. Am 19. Januar vollendet sie ihr 90. Lebensjahr. Wir wünschen ihr weiterhin Gottes Segen und gute Gesundheit!
Rudolf und Gisela Göllner