Freiheit und Rechtsstaat, Verantwortung und Toleranz
Mit den Fluchterlebnissen in den Jahren 1944 und 1945, die mich als Karpatendeutschen bis heute begleiten, versuche ich mich mit einer lebensbedeutsamen Frage auseinanderzusetzen. Bei diesem Vorhaben steht mir Joachim Gauck mit dem Vortrag anlässlich des Neujahrsempfangs 2011 in der Evangelischen Akademie Tutzing (Bayern) hilfreich zur Seite.
Gauck wurde 1940 geboren, ist ein deutscher Politiker und evangelischer Theologe, der von 2012 bis 2017 der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland war. Er war der erste Parteilose in diesem Amt, zu DDR-Zeiten war Gauck auch als Pastor und Kirchenfunktionär tätig.
Nicht die Gedanken, die andere mit großen und hochtrabenden Worten vortragen, sind für den Einzelnen hier und heute bedeutsam, sondern vielmehr das, was aus der erlebten Gegenwart heraus zur Sprache gebracht wird. Deshalb frage ich: Wie will ich das Leben gestalten? Das lerne ich durch eine offene Haltung dem kleinen Kind gegenüber, das in mir das Bedürfnis und die Bereitschaft weckt, es zu schützen, zu begleiten und ihm ein Nest zu schaffen, in dem es sich wohlfühlen kann.
Diese für das Kind helfende Haltung trifft ebenso beim Begegnen mit anderen Menschen zu. Ist das nicht ein glückliches Geschehen, das Teil der menschlichen Existenz ist, für das ich Verantwortung trage und mich nicht zum Scheitern verurteilt?
Ein Beispiel
Bei unseren regelmäßigen Aufenthalten in Bad Aibling waren meine Frau Hanka und ich in den ersten Jahren im Kreis Migration tätig und begleiteten Flüchtlinge. Als in Syrien der Krieg tobte betreuten wir die Familie Ila (Namen geändert) mit ihren vier Kindern. Vater und Mutter waren in Aleppo als Bauern und Händler tätig. Sie konnten nach einem Bombenangriff ihr Leben retten und fanden in einem Bad Aiblinger Container eine Unterkunft. Sechs Menschen wohnten in einem kleinen Raum, als wir sie besuchten und versuchten, ihnen die deutsche Sprache beizubringen, einige Wochen lang. Der Vater erlitt während der Flucht einen leichten Hirnschlag; er war schwer gehbehindert. Der Mutter drohte der Augenverlust. Nach einiger Zeit besuchten wir mit der Familie den Schliersee mit seiner einladenden Umgebung, den sie bei einer Schifffahrt und dem anschließenden Kaffeetrinken tief bewegt erlebten. Wochen später fand die Familie eine kleine Wohnung und wir freuten uns beim Besuch mit ihnen. In den folgenden Jahren begegneten wir der Familie vor allem bei Veranstaltungen des Kreises Migration. Vor einigen Tagen sahen wir uns wieder. Wir erlebten froh gestimmte Eltern. Ein Sohn hat inzwischen in einem Labor einen festen Arbeitsplatz, der andere Sohn ist als Krankenpfleger tätig, der dritte Sohn ist Postangestellter und die Tochter steht kurz vor dem Examen an der Universität München.
Was sagt das Beispiel?
Dieses handlungsbezogene Denken in Freiheit hat mich das Leben durch seine Tiefen und Höhen gelehrt, das nicht dem Gesetz des Stärkeren folgt. Genau das lehrt mich der Rechtsstaat. Diese gelebte Verantwortung ist ein Grundbestand des Humanen, das die Würde des Menschen achtet. Hier komme ich zu mir selbst und empfinde Freude. Diese Freude erlebe ich aus der Beziehung heraus, was mich zugleich in die Verantwortung nimmt. Sogar der Benutzer von Facebook wünscht sich diese Beziehung und damit letztlich die Gemeinschaft mit anderen. Diese empathische dialogische Haltung verhindert Gewalt, kann Toleranz zulassen und den Terror nicht dulden.
Geschieht durch Gewalt Unrecht, dem keine Grenzen gesetzt werden, kann die Welt mit ihren Menschen in die Katastrophe triften. Auf dieses Böse ist durch das universelle, unveräußerliche und unteilbare Menschenrecht durch Strafe klar und eindeutig zu antworten, denn hier wird die Toleranz missachtet.
Es ist auch zu sehen, dass es in unserer Demokratie und Marktwirtschaft Mängel gibt, ja geben muss, die der fortwährenden Verbesserung bedürfen. Als lernfähige Systeme sind sie dem Handelnden in Politik und Wirtschaft aufgegeben, die sich an kleinen Kindern orientieren kann. Hier sind menschliche Kräfte verborgen, die jeder entbergen kann.
Diese aus dem Humanen, d.h. aus der Würde des Menschen kommende schöpferische Kraft kann der Mensch frei pflegen, der mit sich selbst zufrieden ist. Diese Freiheit heißt in Verantwortung für Menschen und Natur zu sein. Hier kann sich Liebe zum Nächsten, zur Freiheit im Denken und Handeln in einem nie endenden Prozess entwickeln. Dieser humanen Realität, die keine Idealität ist, kann jeder folgen, sofern er guten Willens ist.
Prof. Dr. Dr. et Prof. h. c. Ferdinand Klein