Korczak

Liebe und Fürsorge bis zuletzt

Heuer jähren sich zum achtzigsten Mal die Morde an dem jüdischen Arzt, Erzieher und Schriftsteller Janusz Korczak, an seiner Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska und den 200 jüdischen Waisenkindern in ihrer Obhut. Sie wurden in den Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka getötet.

Gerade in unsicheren Zeiten und in einer friedlosen Welt ist das Erinnern an Grundfragen der Erziehung, die Korczak mit seinem Team im Waisenhaus pflegte, dringend geboten.

Im Rahmen eines Seminars mit 25 slowakischen Grundschulkindern meiner Heimatgemeinde Schwedler/Švedlár erzählte ich über Janusz Korczak: Korczak lebte im Nachbarland Polen in der Stadt Warschau, er arbeitete für Kinder. Heute sagen viele, Korczak war der größte Erzieher des vergangenen Jahrhunderts. Er wollte, dass die Menschen immer wieder Fragen stellen. Wer Fragen stellt, ist ein gescheiter Mensch, der will noch mehr wissen. So kommt man ins Gespräch.

200 Kinder, Korczak, Frau Stefa und weitere Mitarbeiter lebten in einem Heim. Es waren fröhliche Kinder, einige waren sehr arm, andere waren nicht immer brav, hin und wieder stritten sie sich auch. Sie waren so, wie Kinder halt sind. Sie ärgerten auch mal Korczak und er ärgerte schon mal die Kinder. Korczak war immer wieder zu Scherzen aufgelegt. Das Haus der Kinder, wie er das Heim auch nannte, war eine gute Gemeinschaft, in der es eine Ordnung gab, die auch die Kinder mit aufgestellt hatten und an die sich die Kinder und Erwachsenen halten mussten. Es gab keine Ausnahme.

Das Kindergericht

Korczak hatte für die Kinder und Erwachsenen ein Kindergericht geschaffen, das auch Kameradschaftsgericht genannt wurde. Die Kinder konnten sich untereinander in das Gericht wählen. Die Kinder waren sodann Richter, sie mussten über das, was ein anderes Kind getan hatte, ein gerechtes Urteil sprechen. Das war gar nicht so leicht. Aber sie konnten sich an Paragraphen orientieren. Ein Paragraph lautete zum Beispiel: „Wenn ein Kind etwas Böses getan hat, dann ist es am besten, ihm zu verzeihen und zu warten, bis es sich bessert.“ Das Gericht hatte auch die Aufgabe, die Stillen, Braven und Schwachen zu beschützen, damit die Starken und Frechen ihnen nicht das Leben schwer machten. Auch die faulen Kinder mussten sich an die Ordnung im Heim halten. Sie mussten Aufgaben erledigen, die in der Hausordnung genau vorgeschrieben waren. Korczak wollte, dass jedes Kind gut und gerecht behandelt werde. Er wollte – wie die Erwachsenen sagen – eine demokratische Ordnung mit gleichen Rechten und Pflichten für jeden Menschen.

Einmal tauchte Korczak aus Übermut den Kopf eines Kindes in einen Eimer mit Wasser. Das war nicht in Ordnung. Das Kind zeigte ihn gleich an. Er musste vor das Gericht der Kinder. Das Gericht ermahnte ihn, er dürfe das nicht noch einmal machen. Es verzieh ihm. So lernte Korczak von den Kindern, dass er so etwas nicht tun dürfe. Er lernte von den Kindern noch viel mehr. Er beobachtete die Kinder genau und lernte von ihnen, dass sie eigentlich alles alleine machen und probieren wollen. Wenn sie etwas nicht beim ersten Mal schafften, wollten sie es noch einmal alleine versuchen. Sie wollten es so lange probieren, bis es endlich klappte. Über den Erfolg freute sich Korczak mit dem Kind und den anderen Kindern der Gruppe. Und er kümmerte sich sogar um ein Kind, das um ein verlorenes Steinchen weinte. Er war mit ihm traurig und achtete seine Gefühle. So zeigte er den Kindern, dass er sie gern hat, dass er sie liebt.

Aber am 5. August 1942 fand das gute und manchmal auch schwere Zusammenleben im Heim ein abruptes Ende. Frau Stefa gab den Kindern die schönsten Kleider zum Anziehen. Sie stellten sich auf der Straße auf. Neben ihnen standen deutsche Soldaten. Die Kinder gingen durch die Straßen von Warschau zum Bahnhof. Sie mussten in die Waggons eines Zuges steigen. Der Zug fuhr in das Konzentrationslager Treblinka. Dort starben Korczak, seine 200 Kinder und Frau Stefa.

Warum erzähle ich euch das?

Korczak setzte dem Töten unschuldiger Kinder seine Liebe und Fürsorge entgegen. Er konnte nicht böse sein. Er schrieb jeden Tag in sein Buch, was ihm am Herzen lag. Am Schluss seines Tagebuches schrieb er in einfacher Sprache: „Ich wünsche keinem Menschen etwas Böses. Ich kann das nicht. Ich weiß nicht, wie man das macht.“

Als ihn Freunde retten wollten, die Kinder aber nicht retten konnten, sagte er: „Wie könnt ihr nur denken, dass ich jetzt die Kinder allein lassen würde.“ Korczak blieb seinem Grundsatz treu, den er schon als junger Mensch gefasst hatte. Er wollte für die Kinder da sein, er wollte ihnen helfen, er wollte sich um alle Menschen kümmern. Besonders Kinder aus schwierigen Verhältnissen und kranke Kinder lagen ihm am Herzen. Korczak wollte, dass es ihnen gut gehe, damit sie später fleißige und gesunde, ehrliche und gute Menschen würden, die dann auch anderen Menschen helfen würden.

An die Lehren, die aus diesem Menschheitsverbrechen zu ziehen sind, kann nicht genug erinnert werden. Das Erinnern hat für die deutsche Geschichte eine besondere Bedeutung. Es beinhaltet den Wunsch, etwas, das in die Zukunft weist, anzuregen. Dieser zweifachen Richtung des Erinnerns müssen wir uns gewahr werden; hier bleibt die Schuld der Vergangenheit bewusst und das wachsame Hören in der Gegenwart wird gepflegt. Durch diese Erinnerungskultur wird immer wieder neu auf die Hoffnung aufmerksam gemacht, dass so etwas wie Auschwitz nicht noch einmal passieren darf.

Prof. Dr. phil. Dr. paed. et Prof. h. c. Ferdinand Klein