„Minderheiten und Menschen am Rande der Gesellschaft zu unterstützen, ist ein moralischer Imperativ“
Anna Polcková ist evangelische Pfarrerin in Preßburg/Bratislava. Sie hält Gottesdienste auf Deutsch und engagiert sich unter anderem für Angehörige verschiedener Minderheiten. Im vergangenen Jahr wurde sie sogar mit dem „Cena Human Forum“ ausgezeichnet. Mit diesem Preis werden Personen gewürdigt, die sich für den Schutz der Menschenrechte und demokratischer Prinzipien einsetzen. Im Gespräch mit dem Karpatenblatt verrät Anna Polcková, welche Projekte sie mit ihren Mitarbeitern in diesem Jahr vorbereitet und was ihr 2020 gelungen ist.
Was wünschen Sie sich für Ihre Gemeinde und die Seniorinnen und Senioren in Preßburg für das Jahr 2021?
Für das neue Jahr 2021 wünsche ich allen Menschen, einschließlich der Mitglieder der Kirchengemeinde Preßburg Altstadt/Bratislava Staré Mesto viel Gesundheit, Vertrauen, dass sie auch in schwierigen Zeiten etwas Schönes, Freudiges finden können, Frieden, Geduld und Zusammenhalt, Mut, sich mit der Verletzlichkeit zu konfrontieren, Hoffnung, dass wir uns dank der Impfung bald persönlich treffen können.
Das letzte Jahr war reich an Projekten. Welches war für Sie das Bedeutendste, das Sie mit Ihrem Team durchgeführt haben?
Ich bin dankbar, dass es uns gelungen ist, Unterstützung aus dem norwegischen Staatsfonds für ein Projekt zur Wiederherstellung eines wichtigen kulturellen Denkmals zu beantragen – des „Alten Lyzealgebäudes“. Derzeit bereiten wir uns auf die Umsetzung vor.
Was planen Sie mit dem „Alten Lyzealgebäude“?
Im „Alten Lyzealgebäude“ wird ein kulturelles Gemeindezentrum eingerichtet. Wir nannten es „Lyzeum – Free Society Lab – ein Labor des freien Denkens“. Ein Teil der Mittel wird in den Wiederaufbau des Gebäudes, der historischen Bibliothek und ein Teil in nachhaltige Aktivitäten investiert. Zusammen mit unseren Hauptpartnern OZ Punkt, der Milan-Šimečka-Stiftung, dem Kirkelig-Dialogzentrum (Zentrum für interreligiösen Dialog) in Oslo und der norwegischen Kirche in Stavanger, aber auch vielen anderen Bürgervereinigungen in der Slowakei wollen wir durch verschiedene kulturelle und pädagogische Aktivitäten zur Förderung des multikulturellen, multireligiösen und multinationalen Dialogs ermuntern, um die Menschen zu Offenheit, kritischem Denken, Solidarität, Freiheit und Verantwortung führen zu können. In einer Zeit, in der Hassreden, Diskriminierung und antisystemische Kräfte zunehmen, ist es äußerst wichtig, dass wir unseren Glauben an Gott in unseren Handlungen beweisen und jeden Menschen ohne Unterschied akzeptieren.
Sie halten auch Gottesdienste auf Deutsch. Welche Bedeutung hat die deutsche Sprache für Sie?
Ich habe ein Studienjahr in Erlangen in Deutschland verbracht. Das war eine Schlüsselentscheidung für mich. Ich lernte die Sprache, die mir Zugang zu Fachliteratur und Kontaktmöglichkeiten im Ausland verschafft hat. Seit Beginn meiner Arbeit in der Gemeinde haben mich deutschsprachige Mitglieder der Kirchengemeinde liebevoll aufgenommen. Gottesdienste auf Deutsch finden jede Woche statt und werden neben Mitgliedern des Karpatendeutschen Vereins auch von Deutschen besucht, die in Bratislava leben und arbeiten.
Viele Jugendlichen bekennen sich offiziell zum Glauben, gehen aber nur selten in die Kirche. Woran liegt das?
Es gibt mehrere Gründe, warum viele Menschen – nicht nur junge Menschen, sondern Menschen jeden Alters – sich als Christen betrachten, aber nicht am Gottesdienst teilnehmen. Ich halte es für primär, dass sie sich in ihrem Leben nicht verstanden, oft nur moralisiert oder sogar beurteilt fühlen. Biblische Schriften müssen in aktuellen Kontexten interpretiert werden, damit ihre Botschaft klar und konkret ist. Dies ist bisher selten der Fall. Wenn Menschen nicht zum Gottesdienst kommen, heißt das nicht, dass sie böse Christen sind. Viele, unabhängig von Religion oder Weltanschauung, üben verschiedene soziale, pädagogische und kulturelle Aktivitäten aus. In unserer Kirchengemeinde unterstützen sie Obdachlose, Roma-Kinder, LGBTI-Menschen, Flüchtlinge usw. Ihre Teilnahme zeigt ihre Liebe. Sie ist die einzige verständliche Interpretation des Glaubens. Jesus sagt in einem Gleichnis: „Was auch immer du einem meiner Kleinen angetan hast, hast du mir angetan.“
Sie sind eine der wenigen Frauen, die sich für den Pfarr-Beruf entschieden haben. Hat man es als Frau in der Kirche schwerer als als Mann?
Wer seinen Dienst in der Kirche verantwortungsbewusst ausüben will, wer kritisch ist, hat es schwer – egal ob Frau oder Mann. Die Wahrheit kann jedoch nicht besessen werden, sondern nur ständig gesucht, gefunden und wieder gesucht werden, es ist ein ständiger Prozess. Änderungen sind jedoch eine Voraussetzung für Entwicklung und Fortschritt.
Sie unterstützen mehrere Minderheiten und Menschen am Rande der Gesellschaft. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Der Ruf, Minderheiten und Menschen am Rande der Gesellschaft zu unterstützen, ergibt sich direkt aus dem Evangelium und ist ein moralischer Imperativ. Solange sich jeder von uns nur um sich selbst kümmert, um unser „geistliches Wachstum“, wenn wir nicht an den Menschen interessiert sind, die um uns herum gequält werden und leiden, verraten wir Gottes Hauptgebot: die Pflicht, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben. Aus dem Leben Jesu geht hervor, dass er sich um Inklusion kümmerte und seine Aufmerksamkeit auf absolut jeden richtete. Indem er betonte, dass wir alle vor Gott gleich sind, störte er viele. So ist es bis heute. Wenn unsere Verkündigung der Ideale von Gottes Reich, Wahrheit und Gerechtigkeit sinnvoll sein soll, muss sie sich in konkreten Einstellungen widerspiegeln, einschließlich der Fürsorge für Menschen, die übersehen und benachteiligt werden.
Das Gespräch führte Hubert Kožár.