Mit drei kleinen Rucksäcken auf der Flucht

Als der Luftschutzalarm zum ersten Mal losging, glaubte Olga Vaganova-Golovka noch immer nicht, dass Krieg in der Ukraine ausgebrochen war. Ihre Familie und sie erlebten die ersten Tage nach Kriegsbeginn in Kiew. Über die plötzliche Flucht nach Westen und wie sie ihr neues Zuhause in Tschechien gefunden hat, erzählte sie im Rahmen einer Medienwerkstatt des LandesEchos und des Karpatenblattes.

Einen Tag vor ihrem 47. Geburtstag beschreibt sich Olga Vaganova-Golovka als eine typische Vertreterin der bürgerlichen Mittelschicht. In der Ukraine arbeitete sie als Assistentin, kletterte die Karriereleiter hoch und eröffnete später ihre eigene kleine PR-Agentur, mit beschaulichen vier Angestellten. Mit ihrem Ehemann zusammen kaufte Olga eine Eigentumswohnung, die sie gemeinsam über fünf Jahre nach ihren eigenen Vorstellungen herrichtete. Mehr als anderthalb Jahre nach Kriegsbeginn ist diese sorglose Zeit längst vorbei.

Obwohl es schon Monate vorher Gerüchte über eine mögliche russische Invasion gegeben hatte, fand es Olga unvorstellbar, dass es Krieg geben würde. Selbst als sie am frühen Morgen des 24. Februar 2022 vom Luftalarm geweckt wurde, wollte sie es immer noch nicht wahrhaben. Wie gewöhnlich, so dachte sie, sollte in zwei Stunden ihr Training im Fitnessstudio beginnen. Doch als sie die Wohnung verließ, traf sie ihre Nachbarn beim Aufbruch mit mehreren Taschen und einem Müllsack in den Händen. Einen Müllsack hatte auch Olga in der Hand, aber zu fliehen hatte sie nicht vor. Auch wenn ihre übliche Sportstunde ausfallen sollte, nahm sie an, das Leben würde in seinen gewohnten Bahnen weitergehen.

Nur das Nötigste: Mit drei Rucksäcken und einer Yogamatte, so machte sich Olga auf die Flucht. Foto: Martin Junge

Die Flucht Richtung Westen
Die ersten zwei Nächte nach Kriegsausbruch verbrachte Olgas Familie in einer zum Bunker umfunktionierten Garage. Nach zwei Nächten Ungewissheit fällte die Familie die Entscheidung, der Einladung von Freunden in die vermeintlich sicherere Westukraine zu folgen. Der Kiewer Bahnhof war nur eine Weile von Olgas Wohnung entfernt und die Evakuierungszüge fuhren jede halbe Stunde. Die Familie packte nur das Nötigste in drei kleine Rucksäcke. Auch dabei war eine schwarze Yogamatte, jedoch nicht für Olgas Fitnessübungen, sondern um notfalls auch auf dem Boden schlafen zu können.

Am Bahnhof war es hektisch, erinnert sich Olga, denn die ganze Hauptstadt war auf der Flucht vor den herannahenden russischen Speerspitzen. Sie erinnert sich auch an viele mitreisende Katzen, die ihre Besitzer in den vollbesetzten Zügen begleiteten. Sobald der Zug Richtung Westen losrollte, überkam sie alle eine große Erleichterung, auch wenn sie wussten, dass der Zug jederzeit angegriffen werden konnte.

Lemberg/Lwiw, die siebtgrößte Stadt der Ukraine, liegt nahe der polnischen Grenze. Das Gefühl der Sicherheit konnte Olgas Familie nicht lange genießen, denn auch der äußerste Westen der Ukraine blieb von Luftangriffen nicht verschont. Als zentraler Knotenpunkt für Nachschubwege aus dem Westen wurde Lemberg zur Zielscheibe der aus Russland angeordneten „Entnazifizierung“. Bei der nächsten Gelegenheit setzte die Familie also ihre Flucht gen Westen fort. Diesmal aber nicht zusammen: Olgas Mann, ein Historiker, der in Tschechien studiert hatte, war im wehrfähigen Alter und durfte nicht ausreisen. Eingeladen von seinen Freunden, brachte Olga ihren Sohn und sich ins sichere Brünn/Brno, während er umkehrte, Richtung Kiew.

Hart arbeitend: Nach anderthalb Jahren hat sich Olga gut angepasst, sie spricht Tschechisch und arbeitet im Vesna-Verein. Foto: Martin Junge

Ein neues Leben in Tschechien
Olga ist eine ethnische Russin – ihr Vater stammt aus dem Ural und ihre Muttersprache ist Russisch. Vor dem Krieg wurde oft die Sprache des großen Nachbarn auf den Straßen Kiews gesprochen. Das änderte sich nun ganz plötzlich. Seit Russlands Angriff entschied sich Olga, nur noch auf Ukrainisch zu sprechen und damit ist sie nicht allein.

Olga wollte nicht auf Unterstützung angewiesen sein und nahm ihre neue Situation als Herausforderung. Tschechisch zu lernen sah Olga wie Sporttreiben als Training für das Gehirn. Wenigstens eine Stunde am Tag lernte sie die Sprache. Die Mühe lohnt sich, sagt sie, denn nach ungefähr anderthalb Jahren ist Tschechisch Teil ihres Alltags geworden. Zuerst arbeitete sie als Freiwillige im Vesna-Verein, wurde aber schnell eine reguläre Mitarbeiterin in der Projektleitung. Der Verein bietet Familien in Not durch soziale und materielle Unterstützung eine helfende Hand. Unterdessen begann Olgas Sohn ein Studium an der Masaryk-Universität wie einst sein Vater.

Olgas Ehemann wohnt bis heute in der Familienwohnung im 21. Stockwerk in Kiew. Noch in den ersten Tagen nach Kriegsausbruch fühlte Olga den unaufhaltbaren Wunsch, den Ausblick von der Terrasse zu genießen. Es war unglaublich blöd und gefährlich, denkt Olga heute, aber wie sie selbst sagt, hat im Krieg alles eine andere Bedeutung. Sie fand in Brünn ein anderes Zuhause, ist aber fest entschlossen, eines Tages nach Kiew zurückzukehren. Für die Zukunft hat sie einen klaren Wunsch: Frieden.

Martin Bednárik

Anfang August veranstalteten das LandesEcho und das Karpatenblatt, die Magazine der deutschen Minderheiten in Tschechien und der Slowakei, eine Medienwerkstatt in Brünn/Brno zum Thema Flucht, Migration und Vertreibung. Dies ist einer der Texte, die dabei entstanden sind.