Zur Erinnerung an den Tag der Deutschen Einheit
Das traditionsreiche Hallesche Institut für Rehabilitationspädagogik war nach der politischen Wende „kopflos“ geworden und so wurde ich im Herbst 1992 gebeten, als kommissarischer Institutsdirektor die Verantwortung für die Neustrukturierung zu übernehmen. Wenige Wochen später trat ich diese Herausforderung an.
Ich begann meine Arbeit in einem ehemaligen Stasi-Gebäude. Bei der Durchsicht der Unterlagen fand ich in den Schränken zahlreiche Direktiven zu den Lehrplänen für die Sonderschulen. Über „Ziele und Aufgaben des Erdkundeunterrichts“ las ich: „Eindrucksvoll ist den Jungen und Mädchen die Gefährlichkeit des Imperialismus und Militarismus der BRD zu erklären und ihr Hassgefühl gegen die Imperialisten und ihre Handlanger zu entwickeln.“ Ich erschrak über diese hasserfüllten Lügen. Darauf antworte ich mit folgenden Impulsen.
Kollektive Leitung von Beginn an
Das mir anvertraute Amt war mit großen Kompetenzen ausgestattet, die ich von Beginn an mit den verbliebenen sieben aktiven Mitarbeiterinnen teilte. Einer Mitarbeiterin drohte die sogenannte Abwicklung, der wir uns mit vereinten Kräften erfolgreich entgegenstellten. Ich hatte die Hilfe der Mitarbeiterinnen unendlich nötig und wandelte von Beginn an die Leitung des Instituts in eine kollektive Entscheidungsgemeinschaft. Viele Akten lagen auf dem Tisch. Ich arbeitete mich in die vor uns liegenden Aufgaben ein und konnte mich auf eine Gruppe stützen, die für die Zukunft offen war, mutig und engagiert ihre ganze Kraft in den Dienst dieser Aufgabe stellte.
Jeder konnte Teamplayer sein
In die Leitungsarbeit konnte sich also jeder mit seiner Kompetenz als Teamplayer einbringen. Die Mitarbeiterinnen harrten bis in die späten Abendstunden aus, ihre Zuarbeiten waren für meinen Verbleib am Institut entscheidend. Vorrangig galt es, die erbetenen Struktur-, Studien- und Ausbildungspläne für fünf neu einzurichtende Fachrichtungen sowie den Diplomstudiengang vorzubereiten und über die Fakultät und den Senat dem Ministerium zur Genehmigung vorzulegen. In dieser Zeit hatten wir ca. 300 Studierende, von denen etwa 40 pro Jahr die erste akademische Staatsprüfung ablegten. Außerdem waren postgraduale Aufbaustudiengänge mit qualifizierenden Abschlüssen vorzubereiten und durchzuführen.
Neben der Neustrukturierung des Instituts, den regulären und zusätzlichen Lehrveranstaltungen konnten auch sechs Dissertationen erfolgreich verteidigt werden. Es gab Tage, an denen ich an drei Sitzungen gleichzeitig hätte teilnehmen sollen. Dringende andere Termine wurden in die Abendstunden verlegt, oder wenn möglich, von Mitarbeiterinnen übernommen.
Unsere konstruktive Arbeit trug bald erste Früchte
Durch unsere intensive Arbeit konnte bald der Weg für fünf neue Stellen freigemacht werden. Nach Sichtung der zahlreichen Bewerbungen nahm die Berufskommission ihre Arbeit auf. Die Verfahren mit den geforderten Gutachten konnten wir zügig voranbringen und abschließen. Nach vielen anstrengenden Diskussionen in den Kommissionen und mit dem Senat der Universität konnten die Vorschläge dem Ministerium vorgelegt werden. Mit Beginn des Sommersemesters 1994 nahmen vier neu berufene Professoren ihre Tätigkeit am Institut auf. Für die fünfte Professur legte die Berufungskommission die Vorschlagsliste vor.
Im Halleschen Universitätsführer aus dem Jahr 1994 lesen wir: „Es geht der Rehabilitationspädagogik um die Erörterung jener geisteswissenschaftlichen Zusammenhänge, die ein Menschenbild begründen, das dem unbeeinträchtigten Menschsein und der Integration Behinderter zugewandt ist.“ Anlässlich der Festveranstaltung „50 Jahre universitäre Ausbildung von Sonderpädagogen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg“ würdigte Melitta Stichling unsere Arbeit mit folgenden Worten: „Es war ein Aufbruch in Entwicklungen, die zu einer neuen Qualität in der Anerkennung der Halleschen Rehabilitationspädagogik geführt haben. Einen wichtigen Beitrag hat dazu Ferdinand Klein geleistet (…). Er sorgte (…) nicht nur für eine stabilisierende und integrative Atmosphäre und hilfreiche wissenschaftliche Diskurse an unserem Institut, unter seiner Leitung gelang auch die Genehmigung von fünf Lehrstühlen“.
Stets ging/geht es um Menschen
Geschichtliche Umbrüche bedeuten Herausforderungen und Chancen, die gelingen können oder zur Erstarrung des nicht Verbindbaren führen und Weiterentwicklungen auf lange Zeit blockieren. Staatlich getrennte Teile, die sich über zwei Generationen hinweg in systematischer Differenz entwickelten, nun plötzlich wieder eins werden zu lassen, stellt eine Aufgabe dar, von der ich heute sagen muss, dass sie viel komplizierter war, als ich mir vorgestellt hatte. Es handelte sich bei der Neustrukturierung eben nicht um ein bloß technologisches Problem, bei dem bestimmte Funktionsteile auszuwechseln oder auf neue Standards umzustellen waren.
Es ging in erster Linie um Menschen. Sie hatten ihre Identitäten entwickelt, die sich nicht einfach austauschen lassen. Das Differente bedeutet nicht Widerspruch zur Einheit, sondern Chance in einem Wandlungsprozess auf dem gemeinsamen Weg. Darüber habe ich in Zusammenarbeit mit den Mitarbeiterinnen in Zeitschriften berichtet.
Die zweijährige Aufbauarbeit war auch mit unerwarteten Steinen gepflastert, die wir mit Resilienz gelassen wegräumten und die Studierenden würdigten.
Prof. Dr. Dr. et Prof. h.c. Ferdinand Klein