Trauertag der Russlanddeutschen
Am 28. August gedachten die Russlanddeutschen eines der tragischsten Momente in der Geschichte ihres Volkes, das sich an diesem Tag vor 80 Jahren ereignete. An diesem Tag erließ das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Erlass („Ukaz“) Nr. 21/160 „Über die Umsiedlung der im Wolgagebiet ansässigen Deutschen“, in dem die Wolgadeutschen wahllos beschuldigt wurden, bei sich „Tausende und Zehntausende von Saboteuren und Spionen“ zu verstecken. Danach erfolgte eine vollständige Deportation der Deutschen aus der Autonomen Republik der Wolgadeutschen in entlegene Gebiete Sibiriens, Kasachstans und Zentralasiens.
Die Geschichte der Deutschen in Russland ist lang. Sie erstreckt sich über viele Jahrhunderte. So vielfältig, wie das Land und die dort lebenden Menschen sind, ist auch die Geschichte, die sich daraus entwickelte. Russen und Deutsche waren schon früh miteinander verbunden, vor allem politisch, kulturell und wirtschaftlich. Die ersten regelmäßigen und andauernden Beziehungen nahmen frühhansische Kaufleute in der Mitte des 12. Jahrhunderts mit Nowgorod auf. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zog es viele Deutsche nach Moskau und ab Anfang des 18. Jahrhunderts vor allem in die aufstrebende Stadt Petersburg.
Seit dem Einladungsedikt (1763) von der Zarin Katharina der Großen und ihrem Enkel Alexander I. zogen im 18. und 19. Jahrhundert tausende Deutsche in die Weiten Russlands, um sich dort niederzulassen. Sie siedelten sich hauptsächlich an der Wolga, am Schwarzen Meer, in Wolhynien – mit Tochtersiedlung bis nach Turkestan und Sibirien – an und trugen entscheidend zur Entwicklung des Landes bei.
Antideutsche Hetze im Ersten Weltkrieg, Kollektivierung und bolschewistischer Terror setzen ihnen zu. Am 19. Oktober 1918 setzte Lenin seine Unterschrift unter das Dekret über die Errichtung der „Arbeitskommune der Deutschen des Wolgagebiets“. Anfang 1924 wurde die Republik der Wolgadeutschen mit der Hauptstadt Engels (früher Pokrowsk) gegründet.
Anfang der Katastrophe
Hitlers Überfall auf die Sowjetunion in den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 war für die deutsche Volksgruppe in der UdSSR der Beginn einer Katastrophe. Nach zehn Wochen wurde der oben erwähnte „Ukaz“ erlassen. Darin hieß es: „Entsprechend glaubwürdigen Nachrichten der Militärbehörden befinden sich in den Wolgagebieten unter der dortigen deutschen Bevölkerung tausende und zehntausende Saboteure und Spione, die auf ein von Deutschland zu gebendes Signal Sabotageakte in den von Wolgadeutschen besiedelten Gebieten auszuführen haben“. Infolgedessen sehe sich „die Sowjetregierung gezwungen, Strafmaßnahmen gegen die gesamte deutsche Bevölkerung des Wolgagebietes zu ergreifen“.
Man spricht zwar nur über die Deportation der Wolgadeutschen, Tatsache war aber, dass alle Sowjetdeutschen damit als Volksverräter bezeichnet wurden. In der Ostukraine sowie auf der Krim hatte die Deportation sogar schon im Juli 1941 begonnen.
Seit dem entsprechenden Erlass des Obersten Sowjets wurden rund 900.000 Russlanddeutsche nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Etwa 350.000 Menschen wurden in Arbeitslager gebracht, mindestens 150.000 verloren ihr Leben. Auf die Deportierten wartete ein neues, schwieriges Leben: die Arbeitsarmee, der Hunger, die Kälte und der Verlust von Angehörigen. Sie durften ihren Wohnort nicht ohne Genehmigung des Kommandanten verlassen. Von 1945 bis zum Sommer 1956 durften sie die Grenzen ihres Kreises nicht überschreiten. Die Verletzung dieser Vorschrift wurde mit 20 Jahren Zuchthaus bestraft. Laut Erlass des Obersten Sowjets von 1948 waren die Deutschen „auf ewige Zeiten verbannt und der Sonderkommandantur unterstellt“. Das war der Höhepunkt der Entrechtungspolitik der Deutschen in der UdSSR. Nach sowjetischen Angaben lebten 1959 von den 1,62 Millionen Russlanddeutschen 90 Prozent im asiatischen und 10 Prozent im europäischen Teil der UdSSR.
Entspannung, Auswanderung, Konsolidierung
1953 starb Stalin. 1955 besuchte Adenauer erstmals seit dem Krieg Moskau, diplomatische Beziehungen zwischen Moskau und Bonn wurden wieder aufgenommen. In der Folge erließ der Oberste Sowjet der UdSSR am 13. Dezember 1955 das Dekret „Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen, die sich in den Sondersiedlungen befinden“. Mit diesem Dekret wurde die Kommandantur abgeschafft, die Menschen durften sich wieder frei bewegen, konnten Verwandte und Bekannte besuchen. Sie durften jedoch nicht in ihre alten Wohnorte zurückkehren und auch keinen Anspruch auf ihr ehemaliges Vermögen erheben. Diese Vorschriften wurden erst 1972 geändert.
Ende der 1970er Jahre sprechen offizielle Statistiken der UdSSR von circa 2 Millionen Russlanddeutschen. Nach der Auswanderungswelle in den 1980er/1990er Jahren leben noch etwa 650.000 Deutsche in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, davon in Russland um die 400.000, in Kasachstan um die 180.000 und in der Ukraine um die 33.000. Sie werden durch hunderte Selbstorganisationen repräsentiert. Ihr Hauptanliegen ist die Konsolidierung, Erhaltung und Entwicklung der deutschen Minderheit in ihrem jeweiligen Land. Seit Anfang der 1990er Jahre haben die Volksdelegierten der Russlanddeutschen beschlossen, am 28. August auf den jährlichen Gedenkveranstaltungen an den Tag ihrer Deportation zu erinnern.
Red