Weihnachten in Nehre
Karl Schlesinger hielt 1994 seine Erinnerungen an Weihnachten in Nehre/Strážky in diesem Text fest, der 2020 im Band 1 der „ZIPSER TRILOGIE: Oberzipser erzählen“ herauskam. Die Trilogie gaben Ferdinand Klein, Anna Klein-Krušinová und Aranka Stigloher-Liptak im Verlag ViViT Kesmark heraus.
Die Gänse stehen auf dem gefrorenen Bach auf einem Bein, die Luft zittert vor Kälte, und glutrot geht die winterliche Sonne hinter den alten Bäumen in Barons Garten, dem Schlosspark, unter. Es ist Heiligabend.
Unsere Großmutter hat gerade einen Backofen voll Kuchen für die Weihnachtsfeiertage gebacken, und nun wischt sie die „Lejb“ (den Flur) zur Haustür hinaus. Slowakische Mädchen aus dem Dorf singen draußen im Hof unter dem Stubenfenster: „Narodil sa Kristus Pán, radujme sa !“ (Christus, Herr, ist geboren, freuen wir uns!)
Am Christabend gehen wir „ën die Bëjl“ (nach Zipser Bela) in die Kirche, und zum Heimweg wird vom Kirchturm herab „Stille Nacht, heilige Nacht“ auf Posaunen geblasen. In Gruppen gehen die Jugendlichen und älteren Leute über das verschneite Land wieder heimwärts nach Nehre, wobei der Schnee unter den Stiefeln knirschte. Beim Auseinandergehen wünscht man sich gegenseitig „glëckliche Fëiertog!“
Früher, so erzählte unser Großvater, als es in Nehre noch keine Eisenbahnbrücke über den Popperfluss gab und man keinen Weihnachtsbaum aus dem nahen Wald holen konnte, nahm man einen Schlehdorn und hängte Äpfel und Nüsse dran. Auf die Dornen steckte man Lebkuchen, die dann, wenn sich der stachlige Christbaum in der Stube richtig erwärmt hatte, weich wurden und einfach auf den Boden herunterfielen – eine süße Beute für die Kinder.
Nach der Bescherung und dem Abendessen – es gab traditionsgemäß geräucherte hausgemachte Bratwürste mit Sauerkraut – spielten wir Kinder mit den Großeltern Karten um Walnüsse. Es ging dabei hoch her. Danach wurden „Mëunlätschchen“ (Mohnlätschchen) gegessen. Diese bestanden aus trockenen Kuchenbrocken, die in warmer Milch eingeweicht und mit gemahlenem Mohn und mit Zucker bestreut waren. Es war eine einfache Speise, die uns aber sehr gut schmeckte.
Um Mitternacht ging man in Nehre „ën die Christnocht“ (Christmette), die auch evangelische Christen besuchten. Nach der Mette schritt der Kuhhirte peitschenknallend durch das Dorf und der Nachtwächter blies in sein Horn – alles Zeichen der weihnachtlichen Freude.
Am Morgen des ersten Feiertages stand das „Wünschen“ auf dem Programm. Oft stellten sich auch Menschen aus dem nahegelegenen Kreuzdorf/Križová Ves als Weihnachtsgratulanten ein. Man sah es im Allgemeinen lieber, wenn als erster „Wünscher“ eine männliche Person erschien, die, so glaubte man, mehr Glück herbeiwünschen konnte. Es gab verschiedene feststehende Texte, zum Beispiel: „Ich wëntsch, ich wëntsch, ich weiß nëch wos, hënderm Äum (Ofen) sëtzt a Hos´, off den Binn quitscht a Maus, gat mer a Stëck Kuchen und jogt mich raus!“
Über Weihnachten gingen auch die großen „Jong“ mit dem „Bethlehem“ in die Häuser. Mit dabei war auch der „Kube“ (Jakob) in einem Schafspelz. Sie sangen „Vom Himmel hoch, da komm´ ich her“. Am zweiten Weihnachtstag gingen der Nachtwächter und der Kuhhirte mit der „Okolken“ (Umgang, slowakisch koleda) zu den Bauern und bekamen überall einen Laib Brot und einen ganzen Kuchen aus Hefeteig, die sie in einem weißen Baumwollsack verstauten.
So verlebten wir einst in Nehre eine schöne und friedliche Weihnachtszeit, die begleitet war von alten, sinnvollen Bräuchen; alle, die dies miterlebt haben, erinnern sich noch heute gerne daran zurück.