Wenn ich der Held in einer Geschichte wäre
Wer in Berlin hat schon von Nitrianske Pravno oder Deutsch Proben gehört? Wir – zwei in Berlin ansässige Künstler aus Berlin und Nahariya in Israel – fuhren im Oktober 2019 auf Einladung des Goethe-Instituts Bratislava für drei Tage dorthin, um einen Graphic Novel-Workshop an einer Grundschule der deutschen Minderheit zu geben.
3.222 Menschen leben laut Wikipedia-Eintrag in Nitrianske Pravno, das 1393 zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurde. Ein kleiner Fluss fließt mitten hindurch – die Nitra. Pravno kommt von „pravda“, was auf Slowakisch und in vielen anderen slawischen Sprachen Wahrheit heißt.
Der kleine Ort wird historisch von Karpatendeutschen bewohnt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wurde hier deutsch gesprochen. Unsere Reise diente der Idee der Verbreitung und Festigung der deutschen Sprache, in einer Zeit, da ihre Beherrschung nützlich wird, um in den anliegenden Fabriken von Audi und Volkswagen einen Arbeitsplatz zu bekommen.
In dem modernen, hellen und freundlichen Gebäude der Grundschule von Nitrianske Pravno, die außer ihrem Namen nur die Nummer 370/19 trägt, werden wir herzlich von der Direktorin empfangen und treffen auf achtzehn Vierzehnjährige einer Abschlussklasse. (In der Slowakei geht die Grundschule bis zur achten Klasse.)
Die deutsche Sprache mit Leben füllen
Die Schüler zeigen sich offen und extrem freundlich, sogar Kuchen haben sie für den Anlass gebacken. Doch es zeigt sich, dass die deutsche Sprache für die meisten von ihnen nicht mehr als ein Unterrichtsfach ist, das sie zwar seit der ersten Klasse belegen müssen, aber mit Eltern oder Großeltern nicht aktiv sprechen.
Der deutsche Bezug ist ein historischer und verschwindet mit den Generationen. Es gilt also, die fremde Sprache mit Leben zu füllen.
Schüler stellen sich in Zeichnungen vor oder zeichnen ihre Sitznachbarn
Eine sprachliche Brücke schlagen die sehr engagierte Lehrerin Frau Pálešová sowie die Schülerin Stella. Dank ihrer Übersetzungsarbeit können wir auch kompliziertere Inhalte vermitteln. Weitere praktische Unterstützung kommt von Zoe Luck, einer jungen Deutschen, welche als ifa-Kulturmanagerin beim Karpatendeutschen Verein arbeitet. Und als die Schüler bei der Arbeit Musik hören dürfen, brechen die letzten Dämme. Rasch entsteht zwischen uns die Atmosphäre einer verschworenen Gemeinschaft, die unter gewissem Zeitdruck für ein gemeinsames Ziel arbeitet.
Deine Geschichte als Comic
Der Arbeitsauftrag ist einfach und komplex zugleich: „Erzähle in einem lustigen, frechen, bewegten Comic eine Geschichte über Dich selbst. Die Hauptpersonen der Geschichte sind Du, Deine Familie und Freunde. Erzähle mit den Bildern, finde also Situationen und kurze Geschichten, die darstellen, was Dich ausmacht.“
Um an die Arbeit heranzuführen, geben wir zahlreiche, rasch auszuführende Übungen, in denen Menschenstudien, Farbgestaltung, Schrift und graphische Gestaltung geübt wurden. Es dauert nicht lange, und die Schüler sind Profis im Schnellzeichnen.
Studien zu Emotionen und menschlicher Figur
Im Laufe der Arbeit werden Wörterbücher herausgeholt, Google-Übersetzungen konsultiert, Lehrerinnen, kundige Mitschülerinnen oder wir selbst nach den richtigen Wörtern befragt. Es werden zeichnerisch-erzählerische Entwürfe erdacht, verworfen, neu aufgestellt. Die Sprache wird zusammen mit den Bildern lebendig, wird zum Werkzeug, das ein jeder sich in seinem Tempo und auf seine Weise aneignen kann.
Pferdeabenteuer, Träume und Klimaschutz
In den Graphic Novels werden gemeinsame Ausflüge, Klassenfahrten, Hobbies, Träume und Erfolge geschildert. Branislav entwirft einen gezeichneten Steckbrief von sich selbst. Karolin und Tamara erzählen von ihren Abenteuern mit ihren Pferden, Lili von ihrer Liebe zu ihrem kleinen Hund. Adam setzt seine Leidenschaft fürs Fahrradfahren graphisch um. Gabriel erzählt von einem schönen Schulausflug.
Dominika setzt sich für den Klimaschutz ein. Stella, unsere Deutsch-Expertin, erzählt in sechs zeichnerisch ausgefeilten Manga-Seiten von ihrer Liebe zum Lesen und der intimen Beziehung zu den Romanhelden, unter ihnen die deutsche Jüdin Anne Frank. Stella hat das Buch auch an Branislav weiterempfohlen, auf dessen Tisch es jeden Tag lag.
Was wäre, wenn ich der Held einer Geschichte wäre?
Anna Faroqhi & Haim Peretz
Anna Faroqhi und Haim Peretz sind freischaffend tätige Künstler und Filmemacher. Seit 2008 erstellen sie – inspiriert von ihrer Lehrtätigkeit im Fach Video an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ und von dem neuen Interesse, künstlerische Arbeitsweisen in einen immer stärker regulierten Schulalltag zu bringen – in partizipativer Arbeit Videos und Graphic Novels zusammen mit Schülern und jungen Erwachsenen in Berlin, Brandenburg und nun auch in der Slowakei. Da das Künstler-Duo häufig mit Geflüchteten oder in sogenannten Brennpunktschulen arbeiten, sind sie es gewohnt, dass gemeinsame Sprache nicht immer das erste Mittel der Verständigung ist, vor allem, wenn es um das Schaffen von Bildern geht.