Wer landete wo? Adressenheft für die Slowakeideutschen
Wenn man die herzzerreißenden Bilder der Flüchtlinge aus der Ukraine sieht, verzweifelte, weinende Frauen, verstörte Kinder, Männer, die sich zurück in den Krieg verabschieden müssen, kann man Tränen des Mitleides für diese geschundenen Menschen und Gefühle der Wut über den Aggressor kaum unterdrücken. Und diese Tragödie spielt sich ab im Herzen Europas, vor unserer Haustür. Bei den Karpatendeutschen kommen Erinnerungen auf an das eigene Schicksal von Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges.
Zwar lebt der größte Teil der sogenannten Erlebnisgeneration nicht mehr, aber alle im Alter von über 78 Jahren und die kurz nach der Flucht in die neue Heimat hineingeborenen Kinder haben noch persönliche Erinnerungen an diese schweren Zeiten.
Das Elend der Flüchtlinge von damals und heute ist das Gleiche: Verlust von Heimat und Eigentum, Trennung von Familien, gesundheitliche Schäden an Leib und Seele, Zerstreuung in andere Länder und Regionen. Aber es gibt auch Unterschiede: Die Ukraine-Flüchtlinge treffen auf Menschen, die im Wohlstand und Freiheit leben. Sie treffen auf eine Welle überwältigender Hilfsbereitschaft. Damals kamen die Ostflüchtlinge in ein vom Krieg ausgezehrtes, zerbombtes Land, sie trafen auf Menschen, die selbst litten und vieles verloren hatten. So löste der Zustrom von Millionen Flüchtlingen verständlicherweise keine Begeisterung aus.
Ein großes Problem damals stellten die unzureichenden Möglichkeiten zur Kommunikation dar. Viele wussten nicht, wo Verwandte, Freunde, gute Bekannte und Nachbarn gelandet waren. Die heute vorhandene Technik zur Verständigung in Wort, Schrift und Bild mit iPhone oder iPad per WhatsApp, Messenger, Facebook u. a., die heute vielen Flüchtlingen zur Verfügung stehen, gab es nicht. So musste man mit den vorhandenen Mitteln, im Wesentlichen mit der Briefpost, vorlieb nehmen. Das dauerte länger, führte aber manchmal auch zum Erfolg. So konnte unser Vater, der von den Tschechen eingesperrt worden war und über die grüne Grenze nach Bayern flüchtete, seine Familie über Verwandte in Amerika ausfindig machen. Diese Möglichkeit hatten natürlich nicht alle.
Adressenheft der Slowakeideutschen
Die Zipser Landsleute Ludwig Kalix und Adalbert Lamm hatten eine Vorstellung, wie man das Problem angehen kann. Sie wollten ein für alle Slowakeideutschen zugängliches Adressenverzeichnis erstellen. Im August 1947 erhalten sie die Erlaubnis der amerikanischen Militärregierung, ein „Adressenheft für die Slowakeideutschen“ zu veröffentlichen. Das erste Exemplar erscheint am 1. September 1947, in weniger als einem Jahr nach dem Eintreffen der slowakeideutschen Flüchtlinge in Deutschland. Das achtseitige Heftchen bestand aus 2 DIN A4-Bögen, zur Hälfte gefaltet und ineinandergeschoben. Eine halbe Seite ist reserviert für die handschriftliche Anschrift und die per Hand aufgeklebte Briefmarke. Zum Versand wird es nochmals in Briefformat zusammengefaltet und mit einem schmalen Papierstreifen zugeklebt. Viel Arbeit!
Es erscheint monatlich in einer Auflage von zunächst 1000 Stück und kostet 0,50 Reichsmark. Papier ist knapp und wird staatlich bewirtschaftet, deshalb bitten die Herausgeber die Leser um Spenden von Altpapier. Mit der Währungsreform im Juli 1948 verschwindet die Papierknappheit und die Auflage verdreifacht sich auf 3.000, der Bezugspreis beträgt nun 0,30 DM.
Das Adressenverzeichnis ist gegliedert in drei Regionen: Zips einschließlich Ostslowakei, Mittel- und die Westslowakei. Die Orte und die ihnen zugeordneten Personen sind alphabetisch sortiert. Bei der Zips sind 32 Gemeinden von Altwalddorf bis Zipser Neudorf vertreten. Die Adressen geben auch Auskunft über die Besatzungszonen, in die es die Menschen verschlagen hat. Die meisten landen in der amerikanischen Zone, nicht wenige in der russischen Zone. Vereinzelt tauchen auch die britische Zone und Österreich auf, die französische Zone fehlt fast gänzlich, weil die Besatzer es dort abgelehnt hatten, Flüchtlinge aufzunehmen. Wie prekär die Unterbringung war, geht zum Teil auch aus der Anschrift hervor. So wird in einem Fall ein „Bahnhofsbunker“ als Wohnung angegeben.
Einblick in die damaligen Verhältnisse
Neben den Anschriften werden andere wichtige Informationen verbreitet. Sie geben einen tiefen Einblick in die damaligen Verhältnisse. So nehmen Auskunftsersuchen über den Aufenthalt von Angehörigen einen breiten Raum ein. Bei Sterbefällen wird unterschieden nach alter und neuer Heimat oder ob die Personen in Kriegsgefangenschaft oder in Russland, wohin sie verschleppt worden waren, verstorben sind. Auch erfährt der Leser Namen von noch in Kriegsgefangenschaft befindlichen Soldaten. Personenstandsänderungen durch Verlobung, Hochzeiten und Geburten zeigen an: Das Leben geht weiter.
Auch der karpatendeutsche Unternehmergeist lebt fort. Einige haben schon bald neue Unternehmen gegründet und bieten Arbeitsplätze an: „Habe mich als Bauunternehmer für Hoch-, Tief- und Eisenbetonbau in Stuttgart wieder niedergelassen. Stelle laufend für meine Baustellen in Stuttgart und Frankfurt (Main) Maurer, Zimmerer, Bauhilfsarbeiter, Lehrlinge, Umschüler und ungelernte Arbeiter ein …“ Märchenhaft mutet das Angebot eines Arztes aus Kalifornien an. Er sucht eine Zipserin als Köchin und Haushälterin für einen 3-Personen-Haushalt. Die Überfahrt will er bezahlen. Die Herausgeber sind auch mit den entstehenden karpatendeutschen Organisationen verbunden. So veröffentlichen sie im Märzheft 1948 die Einladung des Hilfskomitees für die Ev. Luth. Slowakeideutschen an die karpatendeutschen Flüchtlinge aller Konfessionen zum ersten Treffen in Ludwigsburg am 1.8.1948.
Das letzte mir vorliegende Heft Nr. 17 ist vom 31.3.1949. Ob und wie lange danach noch weitere Exemplare erschienen sind, weiß ich nicht. Lange hat es sicherlich nicht mehr gedauert. Das „Adressenheft“ hat früh eine wichtige Funktion erfüllt. Seine Aufgabe, Informationen für die karpatendeutschen Landsleute bereitzustellen, wurde übernommen von den Blättern „Evangelischer Glaubensbote“, dem katholischen „Karpatenbote“, beide ab 1951 in die „Karpatenpost“ einbezogen. Sie erscheinen nun schon seit über 70 Jahren. Eine bemerkenswerte Leistung!
Rudolf Göllner