Zum Heiligen Abend ein Kreuz aus Brot
Kurz vor Weihnachten 1935 kam ich als politischer Häftling in das Gerichtsgefängnis von Kaschau/Košice. Es war keineswegs eine erfreuliche oder gar angenehme Angelegenheit, aber hochinteressant und überaus lehrreich war dieser Gefängnisaufenthalt in so mancher Hinsicht doch. Fast sämtliche Nationalitäten des Südostens waren hier bunt durcheinander in den Zellen vereint. Slowaken, Tschechen, Ruthenen, Ungarn, Polen, Juden, Roma und Deutsche hatten die tschechoslowakischen Aufseher zu bewachen. Eine völlig neue, vordem unbekannte Welt tat sich mir hier auf.
Das Brot, wie das Essen überhaupt, waren Tag für Tag so knapp, dass man überhaupt niemals richtig satt werden konnte. Ich war daher nicht wenig erstaunt zu hören, dass die in unserer Zelle benutzten zahlreichen Figuren für die Schach-, Mühle- und anderen Spiele aus zu Teig gekautem Brot angefertigt waren. Ja sogar verschiedene kleinere Dosen und Behälter hatten sich manche der Zellengenossen aus diesem raren Werkstoff hergestellt. Außer Esslöffel, Haarkamm, Schuhbürste durfte man ja in der Zelle nichts besitzen. Merkwürdigerweise wurden bei den öfters durchgeführten Zellenkontrollen aus Brot gekneteten Gegenstände von den Gefängniswärtern nicht weggenommen.
Ein Roma aus Hermannstadt in Siebenbürgen hatte sich sogar aus Brot circa ein Dutzend haselnussgroße Kugeln geformt, mit denen er täglich spielte, um, wie er sagte, in die Zukunft zu schauen. Da aber seine heidnischen Kugelprophezeiungen niemals stimmten, blieb er daneben mit bewundernswertem Eifer auch dem christlichen Glauben treu. Und es war geradezu rührend zu betrachten, wie er täglich morgens und abends vor seinem Bette zur Wand gekehrt inbrünstig betete. Für das Weihnachtsfest hatte er sogar geschickt aus Brot ein kleines Kruzifix geformt und als am Heiligen Abend die Glocken des Kaschauer Doms ertönten, schritt er damit von Bett zu Bett seiner zehn Zellengenossen. Feierlich rief er dabei jedem von ihnen ungarisch „Dicsértessék Jézus Kristus mindorökké! – Gelobt sei Jesus Christus in Ewigkeit!“ zu. Und die an diesem Abend sehr wortkargen Mitgefangenen verzichteten diesmal ausnahmsweise auf die sonst üblichen Titulierungen wie „Falscher Zigeuner“ oder „Alter Gauner“. Fast ohne Ausnahme murmelten sie ein leises Amen zu dem Gruß mit dem weihnachtlichen Brotkreuz.
Rudolf Göllner, sen.
(1904-1990, geboren in Einsiedel an der Göllnitz/Mnišek nad Hnilcom)