Zur Erinnerung an das Oberuferer Christgeburtsspiel
Die Spiele in Oberufer können als geistiges Fluchtgepäck für die Menschen evangelischen Glaubens verstanden werden, die in der Gegenreformation aus Österreich vertrieben worden sind und sich um Preßburg eine neue Heimat geschaffen haben. Die Geflüchteten hingen mit ihrem Herzen an diesem Kulturgut. So lebte in ihrer Spiel- und Gestaltungskunst die alte Heimat weiter.
Geboten sind vier Vorbemerkungen. 2017 versuchte ich in einer kleinen Studie die Oberuferer Spiele näher zu erkunden. Die Ergebnisse wurden in einer Broschüre veröffentlicht. Interessierten sende ich die Studie gerne per E-Mail zu (ferdi.klein2@gmail.com). Im Folgenden werden Textauszüge zitiert bzw. referiert. Die Spiele entstanden im Dorf Oberufer, das 1890 aus 54 Bauernhäusern und 33 Kleinhäuslern, um 1900 etwa 900 Einwohner und um 1944 über 6.000 Einwohner hatte. Seit 1946 trägt Oberufer den Namen Prievoz. Heute ist Prievoz ein Stadtteil von Preßburg. Das christliche Kulturgut kann in Christgeburtsspiel, Dreikönigsspiel, Paradiesspiel sowie Schuster- und Schneiderspiel gegliedert werden. Mein Interesse gilt dem Christgeburtsspiel, das bis 1942/43 in Oberufer und in anderen Orten aufgeführt wurde: in Deutsch-Proben, in der Kesmarker Holzkirche und in der Urania in Budapest. Die mit großer Sorgfalt gepflegten sakralen Spiele lockten viele Besucher an.
Der Preßburger Germanist, Literaturhistoriker und Goetheforscher Karl Julius Schröer entdeckte die Oberuferer Spiele und regte weitere Forscher zu vergleichenden Studien an.
Als idealistisch gesinnter Forscher und engagierter Schulreformer engagierte er sich im Geist des Humanismus für eine höhere Schulbildung.
Beschreibung der Spiele
Schröer beobachtete die Spiele, die vom 1. Advent bis Heilig-Drei-König an Sonn- und Feiertagen zuerst in einem Oberuferer Wirtshaus, dann in der evangelischen Kirche oder im Saal des Gemeindegasthauses aufgeführt wurden. Er sammelte die handgeschriebenen Texte des Spielleiters Michael Wendelin.
Schröer stellte textkritische Vergleiche an. Seine vergleichenden Beobachtungen und die vorgefundenen handschriftlichen Aufzeichnungen aus dem 18. Jahrhundert veröffentlichte er 1858. Die Urfassung der Oberuferer Spiele befindet sich in der slowakischen Nationalbibliothek der Matica Slovenská in Martin. Das 219 Seiten umfassende Buch ist mit umfangreichen Anmerkungen, einem Register, Kommentaren und vergleichenden Hinweisen versehen, die bis heute die volkskundliche, sprach- und kulturvergleichende Forschung bereichern.
Schröer ließ das spätmittelalterliche geistliche Kulturgut in seiner Bühnentracht malen, „um das Treiben dieser, wie es scheint, letzten Träger einer alten volksmäßigen Bühnenkunst auch von dieser Seite der Vergessenheit zu entziehen.“
Zum Ursprung und Erhalt der Spiele
Die Oberuferer Bauern hingen mit ihrem Herzen an dem christlichen Kulturgut und verpflanzten es in den neuen Lebensraum. So lebte die verlassene Heimat in tiefer Erinnerung weiter: Für sie waren die Spiele eine religiöse Kulthandlung, an der sie festhielten und so die Erinnerung an ihre lebendig gebliebene Heimat pflegten.
Das Volksschauspiel stellt eine urmenschliche Verbindung von Kunst und Glauben dar. „Erfüllt mit Ehrfurcht vor dem väterlichen Erbe waren die Spiele für die Oberuferer eine ernste, heilige Sache, ein Ausdruck der Freude über das himmlische Geschenk der Weihnacht und ein Glaubensbedürfnis, die heiligen Zeiten des Christmonats durch ein Weihnachtsspiel zu feiern.“
Die Oberuferer haben die Spiele wie ein Heiligtum gehütet. Sie verstanden die mit religiöser Hingabe sorgfältig gepflegten Spiele als Verehrung Gottes. Ihre charakteristischen Merkmale waren: der an den gregorianischen Choral erinnernde Gesang der Kumpanei (Companie), der streng psalmodierende Vortrag der einzelnen Darsteller und die auf wenige Bewegungen abgestimmte Symbolik.
Bis 1942/1943 hat Karl Eugen Fürst die Spiele mitgestaltet. Mit Michael Wendelin diskutierte er alle wichtigen Fragen in der Wohnung seines Vaters, der in Oberufer Lehrer war. Auf diese Weise wuchs der Sohn gleichsam mit den Spielen auf und hat dann auch bei den Proben und Aufführungen im angrenzenden Schulsaal mitgewirkt.
Zur Weiterentwicklung
Rudolf Steiner, Schüler, Verehrer und später Freund von Karl Julius Schröer, Begründer der Anthroposophie und der Waldorfschulen, war von den Schilderungen seines Lehrers tief beeindruckt. Steiner erkannte die tiefe Religiosität der Spiele, die ihm Schröer durch seine Persönlichkeit vermittelte. Steiner berichtete, dass ihm durch die Begegnung mit „meinem alten Lehrer und Freund, Karl Julius Schröer“ das Glück widerfahren ist, mit ihm in einen geistigen Austausch zu treten. Seine Seele ist „ganz in dem Leben der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verwurzelt. […] Ein idealischer Zauber ging von dieser Persönlichkeit aus. Wenn Karl Julius Schröer von Goethe sprach, so lebte etwas von der verschütteten Schicht des menschlichen Daseins auf.“
Auf Steiners Anregung hin wurden die Spiele schon 1910 in Berlin nach dem Urtext aufgeführt. Und 1915 führte Steiner Regie bei der Aufführung der Spiele in dem noch unvollendeten Goetheanum in Dornach (Schweiz).
1919 wurden die Oberuferer Spiele mit einer von Leopold van der Pals komponierten Musik „Lieder und Chöre mit Klavierbegleitung zu den von Karl Julius Schröer und anderen gesammelten deutschen Weihnachtsspielen“ begleitet. Die Musik orientierte sich an der mittelalterlichen Dichtung und Darstellungsweise, setzte aber neue Akzente. Auch Steiner hatte auf die weitere Gestaltung der Spiele eingewirkt. Er nahm Änderungen im Inszenierungsstil vor. Diese Eingriffe in die Urfassung wurden kritisiert.
Die Oberuferer Spiele werden heute in der Waldorfbewegung weitergeführt. Ihr liegt ein christlich-humanistisches Menschenbild zugrunde, das im deutschen Idealismus, in Goethes Menschenbild und Steiners Freiheitsimpuls als „christliche Geistigkeit“ gründet. Die Spiele sind fester Bestandteil des Weihnachtsprogramms der über eintausend weltweiten Waldorfschulen und heilpädagogisch-sozialtherapeutischen Einrichtungen.
Bewusstes Erinnern ist geboten
Die Oberuferer Spiele sind in gleicher Weise wie die Oberammergauer Passionsspiele bedeutsame Denkmäler dramatischer Volksdichtung. Um den Erhalt der Oberuferer Spiele dauerhaft, zeit- und ortsunabhängig verfügbar zu machen, wurde der Urtext von Karl Julius Schröer „Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungern“ (1858) digitalisiert. Der Text kann als E-Book kostenfrei heruntergeladen werden:
Bewusstes Leben hier und heute bedarf des sorgfältigen Nachdenkens über das Vergangene. Erst dieses Erinnern ermöglicht, die Lebenswirklichkeit aus der Vergangenheit zu verstehen und verleiht der Gegenwart die Kraft des zukunftsgewandten Gestaltens im europäischen Friedenshorizont, in dessen Zentrum das Axiom der Menschenwürde steht.
Ferdinand Klein, Prof. Dr. phil. Dr. paed. et Prof. h. c.