Eine ergreifende Erinnerung
Voll demütiger Reue gestehe ich, dass ich ohne Wissen fast jeden Arbeitstag seit 42 Jahren am Ort des Grauens der im Buch „Aufgewacht in der Patronenfabrik am 4. Juli 1945“ erwähnt wird, vorbeigehe. Meine Arbeitsstätte steht fast gegenüber dem ehemaligen Lager. Als ich die Erinnerungen las, lief es mir kalt über den Rücken. Srebrenica, Knin, Erbil, Aleppo… und das vor der eigenen Tür!
Von unseren Landsleuten aus Österreich wurden wir nach einer fast vier Monate langen Trennung, eingeladen, am 3. Juli 2020 im Haus der Heimat in Wien an der Präsentation des von Pater Alois Sághy herausgegebenen Buches „Aufgewacht in der Patronenfabrik am 4. Juli 1945“ teilzunehmen. Es hat uns sehr leidgetan, dass wir an dieser Veranstaltung, wegen des noch wütenden Corona-Virus nicht teilnehmen konnten. Als uns von der Karpatendeutschen Landsmannschaft in Wien und den Veranstaltern Pater Alois Sághy und Stephan Sághy mitgeteilt wurde, dass am 24. Juli 2020 an der „alten Grenze“ eine Gedenkstunde mit anschließender heiliger Messe in Kittsee stattfindet, wollten wir diese nicht versäumen. Nach einigen kleinen Umwegen sind wir dann an der „alten Grenze“ zwischen Engerau/Petržalka und Kittsee an der daneben liegenden Wiese, dem Ort dieser Gedächtnisstunde, angekommen.
Zahlreiche Teilnehmer
Erfreulich war die Teilnahme unseres Landesvorsitzenden RNDr. Ondrej Pöss. Die Region Preßburg hat unser Regionsvorsitzender RNDr. Michael Stolár vertreten und die Ortsgruppe Preßburg Ing. Judith Kubincová, Rosi Stolár-Hoffmann und Diana Balogáčová. Wir waren überrascht, dass trotz der immer noch bestehenden Ansteckungsgefahr mehr als zweihundert Leute gekommen sind. Der Mitorganisator der Gedenkveranstaltung, Gymnasialdirektor Walter Roth, begrüßte die Teilnehmer, darunter aus der Politik unter anderen Christoph Zarits, der Vertriebenensprecher der ÖVP im Nationalrat sowie die burgenländischen Landtagsabgeordneten Gerhard Bachmann und Gerald Handig. Auch der künftige Provinzial der Salesianer Don Boscos, P. Siegfried Kettner, die Bürgermeister von Kittsee und der umliegenden Gemeinden sowie Vertreter slowakischer und ungarischer Gruppen und Zeitzeugen aus Bruck an der Donau nahmen daran teil.
Erinnerung an die Ereignisse vor 75 Jahren
Salesianerpater Alois Sághy erinnerte an die tragischen Ereignisse vor 75 Jahren, vergaß aber nicht darauf hinzuweisen, dass die Versöhnung im christlichen Sinne auch bei solchen Gräueln nicht wegzudenken ist. Auch der Präsident der VLÖ, Norbert K. Kapeller, trug mit einem Grußwort zur Veranstaltung bei. Der Kittseer Bürgermeister Johannes Hornek überbrachte eine persönliche Grußbotschaft von Bundespräsident Alexander van der Bellen. Zeitzeugin Rosina Stolár-Hoffmann hielt den Vortrag „Bleibende Erinnerung“. Angesichts der „aussterbenden“ Zeitzeugen gelte es heute mehr denn je, den rohen, absurden, ja kriminellen Akt der Vertreibungen von 1945 in Erinnerung zu rufen, betonte sie, die nach dem Krieg in Preßburg blieb und dort später die deutsche Gemeinde koordinierte.
Durch ein Verbot, auf der Straße Deutsch zu sprechen, sei ihr damals die Muttersprache aus dem Mund genommen worden. Heute seien die Beziehungen zwischen der deutschsprachigen und slowakischen Bevölkerung gut. Man könne sich wieder die Hände reichen und den meisten sei es gelungen, die Erlebnisse von damals zu verzeihen. Vergessen könne man die Geschehnisse von 1945 jedoch nicht, weshalb das Bekenntnis zum gemeinsamen Versöhnungsweg ständig erneuert werden müsse. Nötig sei auch Wachsamkeit gegenüber der Hilfsbedürftigkeit heutiger Vertriebener. Wer von sich behauptet, ein guter Christ zu sein, habe die Pflicht zu vergeben, aber auch Verständnis für heutige Flüchtlinge zu zeigen und ihnen entgegenzukommen. Auch bei ihnen handle es sich um Menschen in Not.
Die Historikerin Michaela Pucher-Schwarz legte auch aus ihren Forschungsergebnissen dar, dass Familien über Jahrzehnte getrennt und Beziehungen unterbrochen waren, Briefe zensiert und langzeitig wirkende Traumata ausgelöst wurden.
Eine besondere Grußbotschaft erreichte die Teilnehmer von Eleonore Schönborn, der Mutter des Wiener Erzbischofs Christoph Schönborn. Sie erinnere sich noch an alle Ereignisse ihrer eigenen Flucht, erklärte die 100-Jährige, die 1945 mit ihren noch kleinen Kindern – darunter auch dem heutigen Kardinal – aus dem tschechischen Skalken/Skalsko ebenfalls infolge der Beneš-Dekrete vertrieben wurde. Besonders der Tod ihrer Mutter in einem Flüchtlingslager sei ihr bis heute stets vor Augen.
Der emeritierte Linzer Diözesanbischof Ludwig Schwarz, der damals als Fünfjähriger mit seiner Familie Bruck verlassen musste, segnete am Ende der Gedenkfeier ein Kreuz als „Weg der Versöhnung“ und eine aus der ehemaligen Heimat gebrachte Linde als symbolhaften „Baum des Lebens“.
Vergeben als einzige Option hob in seiner Predigt beim abschließenden Dankgottesdienst in der Pfarrkirche Kittsee auch der emeritierte Wiener Domvikar Karl Rühringer hervor, der selbst in seiner Kindheit aus Südmähren vertrieben wurde.
Bemerkenswert ist, wie der Ort Kittsee und sein Bürgermeister zum Gelingen der Gedenkstunde ihren Teil beigetragen haben. Die örtliche Freiwillige Feuerwehr half mit technischem Gerät und Getränken, die Musikkapelle hat für die musikalische Untermalung gesorgt.
Was damals geschah
Von rund 150 000 Deutschen, die vor dem Zweiten Weltkrieg in der Slowakei lebten, wurden nach dessen Ende rund 120.000 aufgrund der „Beneš-Dekrete“ vertrieben, 10.000 weitere kamen im Krieg, auf der Flucht oder in Lagern um, jeweils 5.000 wurden vermisst oder verblieben in der Slowakei. Dies umschreibt auch das Schicksal des auf der Schüttinsel gelegenen vormals deutschen Ortes Bruck.
Die Gemeinde Bruck befindet sich im nordwestlichen Teil der Großen Schüttinsel am rechten Ufer der Kleinen Donau. Nach dem Mongoleneinfall ließen sich hier deutsche Einwohner aus Württemberg nieder. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen dorthin weitere Siedler aus Kärnten. Im Jahr 1896 wurde der Ort in Hidas oder auch Dunahidas umbenannt. Bis 1918 gehörte Bruck zum Königreich Ungarn und ab dem Jahr 1918 zur Tschechoslowakei. Danach wurde er im Jahr 1920 wieder in Bruck umbenannt, ab 1927 nannte er sich Most na Ostrove. Im Jahr 1939 kam er zur damals selbständigen Slowakei.
Bis zum 3. Juli 1945 war Bruck ein deutscher Ort. Dann wurden 2.000 Einwohner der Ortschaft Bruck – Greise, Kinder, Frauen und Männer – in einer Blitzaktion vertrieben. Die Männer waren auf dem Feld, um die in Garben gebundene Ernte einzubringen, die Frauen bereiteten das Mittagessen zu. Es war ein gewöhnlicher Tag und niemand ahnte die kommenden Ereignisse. Das Dorf war schon von der Miliz umstellt, die Männer wurden nach Hause geschickt und es wurde ihnen mitgeteilt, dass sie binnen einer Stunde mit ihren Familien den Ort verlassen müssen und nur Dinge, die sie tragen können, mitnehmen dürfen. Dieser verstörte Zug wurde auf den Platz vor der Kirche zusammengetrieben und in den Nachmittagsstunden zu Fuß in das Sammellager in der Preßburger Patronenfabrik getrieben. Dieser Fußmarsch dauerte lange Stunden und im Lager kamen sie erst spät nach Mitternacht an. Zweitausend Menschen wurden in Baracken gepfercht, in denen vorher Schweine untergebracht waren.
In den Baracken
Dort wurden sie drei Wochen unter menschenunwürdigen Umständen festgehalten. Im Lager hatte es nicht einmal die notwendigste Versorgung gegeben, weshalb in diesen Wochen viele Kinder und ältere Menschen „wie die Fliegen“ an der Ruhr gestorben seien. Dann wurden sie am 23. Juli 1945 mit ihren letzten Habseligkeiten über eine Pontonbrücke über die Donau zur Grenze bei Kittsee getrieben. Dabei wurden ihnen noch die letzten Habseligkeiten gestohlen. Auf der an der Grenze liegenden Wiese verbrachten sie die Nacht, weil sie nicht nach Österreich durften.
Wegen dieser unhaltbaren Lage gingen einige der Bruckner Männer nach Kittsee, um die Situation zu klären. Dort wurden sie auf die russische Kommandantur verwiesen. Der Kommandant setzte sich in ein Auto und an der Grenze angekommen, sagten die Russen nur „Davaj – davaj!“ und der ganze Zug bewegte sich nach Kittsee. Der Grenzort Kittsee ist „der erste Ort in Freiheit“ gewesen. Weiter ging es nach Berg und in die umliegenden Dörfer. Manche Familien blieben noch einige Tage in Kittsee und den umliegenden Orten. Dann ging es aus Hainburg mit einem Güterzug nach Wien, wo viele in den Baracken des Auffanglagers auf dem Wiener Küniglberg landeten. Viele von ihnen haben in diesem Lager dann noch einige Jahre verbracht.
Die ursprüngliche Hoffnung der Menschen auf eine Rückkehr in ihre Heimat ist mit der Ausweisung aus der Slowakei endgültig gestorben. Viele fanden später in den Grenzorten oder in Wien eine neue Heimat, andere in Deutschland oder in Übersee.
Bruck nach dem Krieg
Nach der Vertreibung der Deutschen und der Konfiszierung ihres gesamten Vermögens wurden im Ort Slowaken angesiedelt und den Zuwanderern wurden die Häuser der Deutschen zugeteilt. Nach dem Jahr 1948 begann die „Sozialisierung“ des Ortes. Im Jahr 1949 wurde die Landwirtschaftsgenossenschaft gegründet und somit den damaligen Besitzern der Landbesitz wieder abgenommen. Im Jahr 1953 kamen noch weitere Familien aus Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Jugoslawien und aus der Umgebung von Bánovce ins ehemalige Bruck.
Im Jahr 1974 bekam dann der Ort den Namen Most pri Bratislave. Laut der letzten Volkszählung vom Jahr 2011 wohnten in Bruck 2.144 Einwohner. Davon 1.883 Slowaken, 41 Ungarn, 20 Tschechen, jeweils zwei Mährer und Ukrainer und 1 Deutscher!Bis zum 31. Dezember 2019 wuchs die Anzahl der Bewohner auf 3.716 Seelen aber ohne Deutsche.
Stephan Sághy, Michael Stolár, Rosi Stolár-Hoffmann