„Es ist normal, verschieden zu sein“ – im Gespräch mit Professor Ferdinand Klein
„Der Vertreibung aus der Heimat darf nicht die Vertreibung aus der Geschichte folgen“, sagt Professor Ferdinand Klein. Der 87-jährige Karpatendeutsche stammt ursprünglich aus Schwedler/Švedlár in der Unterzips. Im Karpatenblatt-Gespräch stellt sich der international renommierte Heil- und Sonderpädagoge Fragen über den Krieg, über Tränen und Zuversicht.
Herr Klein, Sie haben mal in einem Karpatenfunk-Podcast aus Ihrer Kindheit über Ihre Kuh namens „Dami“ erzählt, die Sie durch die Kriegsereignisse und die Flucht nicht mehr wiedersahen… – in meinen Ohren klang es so, als hätten Sie Tränen unterdrücken müssen, als Sie über diese Zeit sprachen. Ein Mann weint nicht, oder?
Immer dann, wenn ich nach der politischen Wende in Schwedler war, dachte ich besonders an meine Kinderzeit zurück. Wenn möglich, ging ich allein zum Fluss „de Gelenz“ (die Göllnitz) oder auf das Mühlhübel und spürte all dem nach, was ich in Schwedler erlebt habe. Plötzlich tauchen Erinnerungsbilder auf und ich erzähle diese Erlebnisse weiter – mal traurig, mal lustig. Offenbar gehören Trauer und Freude zu unserem Leben. Wer nur von Freude und Erfolgen redet, der unterdrückt das erlebte Leid. Leid und Freud sind wohl zwei Seiten der Medaille. Daraus kann etwas Gutes entstehen!
Auf Ihrem beruflichen Weg wurden Sie ein anerkannter Experte für Heil- und Sonderpädagogik. Den Schwachen helfen, sie planvoll mitnehmen in der scheinbar starken Mehrheitsgesellschaft – sind nicht gerade da Mitleid oder Wehleidigkeit völlig fehl am Platz?
Als ich 18 Jahre alt war, führte mich der Weg in die Heil- und Pflegeanstalt Bruckberg bei Ansbach, eine Einrichtung der bayerischen Diakonie Neuendettelsau. Dort betreute ich in den Sommerferien eine Gruppe mit 18 schwer- und mehrfachbehinderten Jugendlichen und Erwachsenen. Diese Menschen hatte mir der Anstaltsleiter anvertraut. Ich wollte sein Vertrauen nicht enttäuschen, strampelte wie ein Frosch im Butterfass nach oben und machte prägende pflegerische und erzieherische Erfahrungen. Mit diesen Menschen lebte ich über einen Monat lang Tag und Nacht zusammen. Ich versuchte mich auf jeden einzelnen einzustellen und war bemüht den vielen, oft völlig überraschenden Situationen möglichst situationsgerecht zu begegnen. Dabei lernte ich ihre liebenswürdigen Seiten, aber auch ihre weniger guten näher kennen.
Die Bruckberger Heime besuchte später die Schweizer Musikpädagogin Mimi Scheiblauer. Mit ihren rhythmisch-musikalischen Spiel-Übungen überzeugte sie davon, dass es „kein lebensunwertes, kein bildungsunfähiges Leben“ gibt. Die Begegnungen mit Mimi Scheiblauer und ihrem Werk sind aus meinem heilpädagogischen Werk nicht wegzudenken, das sich bis heute mit Fragen der gemeinsamen Erziehung und Bildung von Menschen mit und ohne Behinderung befasst, denn es ist normal, verschieden zu sein. Bei diesem wissenschaftlichen Denken und praktischen Handeln hat Wehleidigkeit keinen Platz! Geboten ist einfühlendes Mitleiden.
Zurück zu Ihrer Kindheit, die vom deutsch-slowakischen Faschismus überschattet und vom Hitler-Krieg jäh gebrochen wurde. Sie waren ein Kind. Ihr Vater starb früh, da er bereits vom Ersten Weltkrieg krank nach Hause gekommen war. Ich nehme an, Sie konnten ihn dazu nichts mehr fragen. Doch was hätten Sie ihn, rückblickend, gern gefragt?
Das Kriegsleiden meines Vaters verschlimmerte sich, nachdem wir 1946 von Zechendorf nach Schesslitz in Oberfranken umgezogen waren. Er ertrug schweigend sein Schicksal und starb, als ich gerade 16 Jahre alt war. Der Text auf seinem Grabstein charakterisiert ihn: „Müh und Arbeit war sein Leben, treu und fleißig seine Hand. Ruhe hat ihm Gott gegeben, Rasten hat er nie gekannt“. Er sorgte sich um mich so gut er konnte und legte 1941 in Schwedler ein „Einlagebüchel“ an. Dieses Sparbuch hüte ich noch heute wie einen kleinen Schatz. Rückblickend würde ich ihn nach den Ursachen des Krieges fragen, vermute aber, dass er eher geschwiegen hätte.
Sie sind Karpatendeutscher und leben in Bayern. Nun weiß ich, dass Sie oft in Sillein/Žilina sind. Ist denn die moderne Slowakei, spätestens ab den 2000er Jahren, für Sie und Ihre Frau ein Sehnsuchtsort oder sogar „mehr Heimat“ als Deutschland?
Ich lebte und arbeitete in vielen Orten, könnte mit verschiedenen Heimatbegriffen antworten. Für mich ist Žilina ebenso meine Heimat wie Schwedler. Das erläutere ich am Beispiel meines Geburtsortes: Wenn ich heute zu den Landsleuten nach Schwedler komme, dann kann ich in jedes Haus wie zu Freunden gehen, werde herzlich empfangen, zum Gespräch eingeladen und könnte da übernachten. Diese Häuser mit ihren Menschen, die viel erlitten haben – das ist meine Heimat.
„Meinen Zipsern“ schenkte ich die „ZIPSER TRILOGIE. Potoken und Mantaken dazähln“. Das Werk gibt einen lebendigen Einblick in die bewegte Geschichte der Menschen, die seit über 800 Jahren bis 1945 in der Zips lebten: Deutsche, Ungarn und Slowaken. Es möchte darauf aufmerksam machen, was in der Seele und im Herzen der Zipser-Deutschen schlummert. Geboten ist eine Kultur des Erinnerns, denn der Vertreibung aus der Heimat darf nicht die Vertreibung aus der Geschichte folgen.
In der Heimat begegnen Menschen einander. Hier in diesem Beziehungsraum können Ängste, Ärgernisse, Enttäuschungen oder Stress bewältigt werden und jeder kann sich mit seinen Problemen weiterhin sinnvoll auseinandersetzen. Aus dieser sinnbezogenen Auseinandersetzung erwächst die Kraft mit dem Herzen zu sehen, zu erkennen und zu handeln und gemeinsam Heimat zu erleben – ganz unabhängig vom Ort.
Das Gespräch führte Kay Zeisberg. Er ist Redakteur beim öffentlich-rechtlichen RTVS-Radio Slowakei International und in seiner Freizeit Karpatenfunk-Podcaster.
Das ganze Gespräch können Sie hier nachhören.