„Mit meinem Kater rede ich nur Egerländisch!“
Lieselotte Procházková stammt aus einer sudetendeutschen Familie aus Lihn/Líně bei Pilsen/Plzeň. Jahrzehntelang wusste sie nichts vom Schicksal weiterer deutscher Minderheiten in anderen Gebieten des östlichen Europas. Sie kannte nur die eigene Familiengeschichte – und diese nur zur Hälfte.
Zwei Fotografien, eine Geburtsurkunde, Legitimationspapiere und eine Aufforderung, das eigene Haus binnen drei Tagen zu verlassen, liegen auf der weißen Tischdecke aus Spitze. Kerzengerade und mit wachem Blick sitzt Lieselotte Procházková am Tisch. Lotterl, wie Lieselotte von ihrer Mutter liebevoll gerufen wurde, ist inmitten der Wirren des Zweiten Weltkriegs als Sudetendeutsche in Lihn/Líně geboren worden. Was ihre deutschstämmige Familie in dieser Zeit erlebt, wird sie erst später verstehen. „Jessas Maria“, ruft Lieselotte und fährt mit dem Zeigefinger über Fotografien eines Friedhofes, der nördlich des Dorfes Auherzen/Úherce liegt. Einige Angehörige der Familie wurden dort bestattet. Viele der Grabstätten sind bereits verfallen, denn rund um die Gräber der Familien Fritsch – wie ihre Mutter vor der Heirat hieß – und Reiprich – so hieß wiederum der Vater – sammeln sich letzte Ruhestätten von Vertriebenen, die keine Angehörigen mehr in der Nähe haben, die sich um die Grabpflege bemühen könnten. Die meisten Deutschen mussten ihre Häuser nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen. Auch die damals einjährige Lieselotte und ihre Familie sollten ihr Haus binnen drei Tagen räumen und verschwinden. Obendrein wurde von ihnen eine exakte Auflistung ihres Hab und Guts verlangt.
Der unermüdliche Kampf um die Großmutter
Da Lieselottes Vater Franz in der Nähe von Pilsen/Plzeň als Bergmann tätig war, musste er keinen Militärdienst leisten. Dies hatte außerdem zur Folge, dass er mitsamt seiner deutschen Familie im Land bleiben durfte. Dennoch mussten sie ihr eigenes Haus verlassen. Die Familie lebt fortan in einem nahegelegenen Dorf in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, findet sich trotz der angespannten Situation irgendwie zurecht. Deutsch zu sprechen ist verboten, einzig im familiären Kreis und in der geschützten Wohnung wird die Muttersprache verwendet. Die Familie bangt jedoch um die Großmutter, die nicht bleiben dürfen soll und auf Tschechisch eine Aufforderung zum Verlassen des Landes bekommt. Der Vater erhebt beim Prager Innenministerium Einspruch gegen die Ausweisung. Nach Wochen des Bangens unterzeichnet der Vater ein Dokument, welches besagt, dass kein Anspruch auf Rente erhoben wird. Die Familie lebt auf kleinem Fuß, ein Viertel des Lohns des Vaters wird seitens der Regierung einbehalten, denn er ist Deutscher. Lotte fährt sich durch das kurz geschnittene ergraute Haar, sie schüttelt den Kopf. Bevor sie weiterspricht, streicht sie mit dem Zeigefinger zärtlich über eine Fotografie des Familiengrabes. Die Großmutter sei trotz der Erleichterung, bei der Familie bleiben zu können, nach zwei Jahren gestorben. Lotterl sei froh gewesen, dass die Oma im Kreis der engsten Familie ihre letzte Zeit verleben durfte: „Sie musste wenigstens nicht mit Fremden in die Fremde gehen.“
Der Schwiegervater ein Stalinist
Ob sie jemals wieder nach Lihn/Líně zurückgehen wollten? Davon wollte die Mutter nichts wissen: „Mama wollte das Haus nicht mehr wiedersehen“, so Lieselotte. Die Jahre ziehen ins Land, die junge Lieselotte macht nach dem Gymnasium eine Lehre als Vermesserin. Zu dieser Zeit lernt sie ihren Ehemann kennen, der in der Region seinen Wehrdienst absolviert. Der Tscheche ahnt nichts von ihrer deutschen Herkunft. Er wundert sich nur, dass die Familie Reiprich regelmäßig Pakete aus Deutschland und Österreich erhält. Lieselotte erklärt ihm, dass diese von Verwandten kommen und sie selbst Deutsche sei. „Ihn hat das nicht gekümmert. Wahrscheinlich hat er mich nur heiraten wollen, um seinem Vater eins auszuwischen.“ Lieselotte lacht kurz auf. Dann senkt sie ihren Blick und schwelgt weiter in Erinnerungen.
Der Schwiegervater war bekennender Stalinist. So war er von Anfang an skeptisch gegenüber der deutschen Herkunft seiner neuen Schwiegertochter. Bei Tisch gab es immer wieder politische Diskussionen. Lieselotte beschloss, ihre Meinung zu vertreten, auch wenn das kein gutes Licht auf sie warf. Das angespannte Verhältnis bleibt bis zum Tode des Schwiegervaters kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. „Leider hat er das (das Ende der Sowjetunion) nicht mehr mitbekommen. Ich hätte es ihm gegönnt“, sagt Lieselotte entschlossen. Sie hebt ihren Blick, die Augen wirken wacher als zuvor. Als sie 1991 dem ‚Deutschen Klub‘ beigetreten sei, habe sie die Ereignisse rund um den Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit weiteren engagierten Menschen aufgearbeitet. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fühlte sie sich ihrer Aussage nach „wie neu geboren“. Endlich gab es die Möglichkeit, sich frei kulturell zu engagieren. Erst zu dieser Zeit habe sie erfahren, dass es zu Grausamkeiten wie dem Brünner Todesmarsch und dem Massaker in Postelberg gekommen war. Sie erfährt auch, dass es weitere Deutsche im östlichen Europa gab, die ihr zu Hause verlassen mussten. Aussiedlung, Flucht und Vertreibung werden ihr erstmals als Begriffe geläufig.
Moris, der egerländische Kater
Heute spricht Lieselotte nur noch ab und an mit ihrer Schwester ihre einstige Muttersprache Egerländisch. Das gehe allerdings nur, wenn die Kinder und Enkelkinder nicht zugegen sind, denn die würden Egerländisch mäßig bis gar nicht verstehen. „Es war ein Fehler, den Kindern die Sprache nicht zu vermitteln.“ Ihre Tochter spreche gut Standarddeutsch, der Sohn verstehe die Sprache, spreche sie aber nicht. Nun ist der siebenjährige Kater Moris der einzige egerländische Ansprechpartner im näheren Umfeld. Sobald ihr in der Küche etwas zu Boden fällt, wird auf Egerländisch geflucht. Im Alltag verwendet die ‚Sudetendeutsche‘ aus Böhmen, wie sie sich selbst bezeichnet, überwiegend Tschechisch. Deutsch wiederum spricht sie bei den regelmäßigen Treffen der Sudetendeutschen im Begegnungszentrum, Veranstaltungen wie dem Sudetendeutschen Tag oder anderen kulturellen Veranstaltungen deutscher Minderheiten, wie etwa den Karpatendeutschen, zu denen sie gute Beziehungen pflegt. Neuerdings lernt die 15-jährige Enkelin Tereza Deutsch und beginnt sich für die bewegte Vergangenheit von Lieselotte und ihrer Familie zu interessieren.
Theresa Stangl
Anfang August veranstalteten das LandesEcho und das Karpatenblatt, die Magazine der deutschen Minderheiten in Tschechien und der Slowakei, eine Medienwerkstatt in Brünn/Brno zum Thema Flucht, Migration und Vertreibung. Dies ist einer der Texte, die dabei entstanden sind.