Berühmte Zipser: Eisenbahningenieur Gyula Ludvigh
Gyula Ludvigh, der später auch Julius, die deutsche Form seines Vornamens, benutzte, war das dritte Kind und der älteste Sohn von János Ludvigh und Amalia Mayer. Er wurde am 21. April 1841 in Zipser Bela/Spišská Belá geboren.
Seinem nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution nach Belgien geflohenen Vater konnte seine Mutter mit den Kindern erst 1853 folgen. Gyula war gerade 12 Jahre alt. In Brüssel fand er sich schnell mit der französischen Sprache zurecht. Erfolgreich besuchte er ein Lyzeum und studierte anschließend in Brüssel.
Im Jósa András Múzeum in Nyíregyháza, Ungarn, liegen Dokumenten über seine Studienfächer vor. Mit den Disziplinen Höhere Mathematik, Physik, theoretische und praktische Geometrie, Chemie, Mineralogie, Mechanik, Technologie, Bewässerung, Straßen- und Brückenbau bekam er eine solide Ausbildung zum Ingenieur. Er nutzte diese zusammen mit seinen Sprachkenntnissen.
Planung und Bau von Eisenbahnlinien
Gyula begann seine berufliche Laufbahn mit einem Praktikum in Belgien. Belgien zählte zu dieser Zeit zu den führenden europäischen Ländern im Aufbau eines Eisenbahnnetzes. Seine Erfahrungen im Praktikum führten ihn zu einer Gruppe belgisch-englischer Ingenieure, der er sich anschloss. Dort war er am Ausarbeiten des Plans für eine Eisenbahnlinie zwischen Moskau und Saratow beteiligt und hielt sich dazu auch in Russland auf.
Dieses Ingenieurbüro bekommt anschließend eine weitere Aufgabe im Ausland – den Bau der ersten Eisenbahnlinie in den Pyrenäen durch Katalonien. Der Bau von Tunneln und Brücken stellte dabei höchste ingenieurtechnische Ansprüche, ebenso wie die Eisenbahnstrecken zwischen Sevilla und Merida in Andalusien und in der Sierra Morena (1863-1866).
Danach ist er schon so bekannt, dass ihm die Société Agricole d’Egypte ein Angebot macht. Der Bau des Suezkanals (begonnen 1859, 1869 fertiggestellt) lag in den Händen eines in Paris angesiedelten Konsortiums, das neben dem Schifffahrtsweg auch weitere Verkehrsprojekte beginnen wollte. Gyula lehnt ab und bewirbt sich lieber in seinem Heimatland um eine Ingenieursstelle. Nach dem sogenannten Ausgleich mit Österreich vom Februar 1867, der Einführung der Doppelmonarchie und dem Wiederherstellen des ungarischen Reichstages, sieht er bei einer Rückkehr für sich und seinen noch immer im Brüsseler Exil lebenden Vater keine Gefahr. Er bittet den Vater, mit ihm zurück in die Heimat zu kommen.
Dienst in der königlichen ungarischen Eisenbahn-Direktion
Am 10. August 1867 beginnt er als „Ingenieur zweiter Klasse“ für die königliche ungarische Eisenbahn zu arbeiten. Seine ersten Arbeitsstellen befanden sich in Fiume (Rijeka) und Nagyvárad (Oradea, dt. Großvardein). Im Juli 1869 stieg er zum Ingenieur erster Klasse auf, noch vor Jahresende zum Chefingenieur III. Klasse und im Mai 1871 zum Chefingenieur I. Klasse. Maßgeblich beteiligt war er an der Einrichtung der Eisenbahnlinien Károlyváros (Karlstadt, heute Karlovac) – Fiume, Nagyvárad-Kolozsvár und Hatvan-Szolnok.
Seine Sprachkenntnisse brachten ihm weitere Vorteile, man ruft ihn zu internationalen Verhandlungen der ungarischen Eisenbahn. Neben Ungarisch, das als seine Muttersprache angegeben wird, spricht er Deutsch, Französisch und Spanisch.
Nachdem er 1872 in der Türkei das türkische Eisenbahnwesen kennengelernt hatte, vertrat er 1873 bis 1874 die ungarische Regierung bei Verhandlungen über eine durchgehende Eisenbahnverbindung. Bislang musste mit der Kutsche gereist werden, eine solche Reise galt im unsicheren Balkan als sehr gefährlich.
Das Gelände einer zukünftigen Eisenbahnverbindung von Belgrad nach Konstantinopel einschließlich einer Querverbindung von Thessaloniki über Mitrovica nach Sarajevo erkundete Gyula Ludvigh persönlich. Er bereiste die Strecke unter großen Gefahren und Entbehrungen mit dem Pferd und führte Vermessungen und Studien durch. Damit schuf er die Planungsunterlagen für den kurz darauf erfolgenden Bau der Eisenbahnverbindung zwischen Ungarn und Serbien sowie nach Rumänien.
In hohen Funktionen
Baron Gábor Kemény (1830-1888), von 1878 bis 1882 Minister für Landwirtschaft, Industrie und Handel, danach von 1882 bis 1886 ungarischer Transportminister, empfahl ihn bei Kaiser Franz Joseph I. Dieser ernannte Gyula Ludvigh daraufhin am 27. Januar 1881 zum Berater des Ministers im Rang eines Staatssekretärs.
Ab 1881 bis 1887 führte er die Abteilung für Straßen- und öffentliche Konstruktionen (die Eisenbahn- und Brückenbauabteilung) dieses Ministeriums, wurde 1883 Mitglied des Verwaltungsrats der ungarischen Staatsbahn MÁV (Magyar Államvasutak) und Mitglied des Oberhauses (Magnatenhaus). Gyula Ludvigh war angesehener Experte bei Beratungen und Beschlüssen zum Eisenbahnwesen.
Sein Organisationstalent bewies er zur ungarischen Landesausstellung 1885 in Budapest. Bei der Präsentation des Landes war Gyula Ludvigh für den Bereich öffentliche Arbeiten und Verkehr des Ministeriums verantwortlich. Für die ausländischen Besucher war dieser Teil der Ausstellung der interessanteste und lehrreichste. Ferdinand Lesseps, der Erbauer des Suezkanals, leitete die französische Delegation. Mit Ludvigh konnte er sich auf Französisch unterhalten. Nicht nur deshalb wurde dieser gleich zur Weltausstellung in Paris 1889, zum 100. Jahrestag der Französischen Revolution, eingeladen. Für seine Verdienste bei der Organisation und Leitung der Ausstellung erhielt Ludvigh seinen ersten königlichen Orden, den Orden der Eisernen Krone III. Klasse.
In den Jahren von 1887 bis 1909 leitete er die Staatsbahn, die in dieser Zeit eine sehr erfolgreiche Entwicklung hatte. Von 1901 bis 1909 war er auch Präsident der Kaschau-Oderberg-Eisenbahngesellschaft (Košicko-bohumínska železnica). Das Schienennetz wurde unter seiner Leitung auf 22.000 Kilometer ausgebaut, die Bahn beschäftigte um 1900 etwa 150.000 Mitarbeiter. Der ungarische Bergbau, die Eisen- und Stahlproduktion legten den Grundstein für den Bau von Dampflokomotiven. Die von ungarischen Ingenieuren gebauten Loks der Serie 201 erreichten Geschwindigkeiten von 100 km/h; diese Leistung wurde mit einer Goldmedaille auf der Pariser Weltausstellung prämiert. Bereits zuvor hatte es für diese Lokomotiven bei Ausstellungen in Wien (1894) und Brüssel (1897) und später in Mailand (1906) Auszeichnungen gegeben.
Viele Ehrungen und Auszeichnungen
Die Verleihung des Ordens der Eisernen Krone im Jahr 1885 war der Beginn einer unglaublichen Folge von Ehrungen. Gyula Ludvigh war nicht nur zur Weltausstellung in Paris 1889 eingeladen; auf der gleichzeitig stattfindenden Eisenbahnkonferenz konnte er über die internationale Zusammenarbeit der ungarischen Eisenbahn berichten. Vom Präsidenten der Republik erhielt er am 29. Oktober 1899 den höchsten französischen Orden „Ordre national de la légion d’honneur“ der Ehrenlegion. Für die Annahme des Ordens musste allerdings Minister Gábor Baross (1848-1892), der 1886 die Nachfolge des Barons Kemény antrat, seine Genehmigung erteilen. Baross engagierte sich sehr für den Ausbau des Schienennetzes, verdankte aber auch Ludvigh große Teile seines guten Rufes. Dies zeigt sich z.B. in Budapest an zwölf nach Baross benannten Straßen.
Seine Begeisterung für den Beruf war groß und er zeigte sie auf viele Arten. So ließ er es sich nicht nehmen, als einer der ersten Ungarn mit dem Orient-Express, der von Paris nach Konstantinopel fuhr, zu reisen. Als Direktor der Staatsbahn begrüßte er den Kaiser bei dessen Besuchen mit dem Zug persönlich und half ihm beim Aus- und Einsteigen.
Von den weiteren an Gyula Ludvigh verliehenen Orden seien einige genannt: Er erhielt 1890 den türkischen Mecidiye-Orden II. Klasse, 1892 in Ungarn das Ritterkreuz des Lipót (Leopold)-Ordens, in Rumänien das Großoffizierskreuz des Kronenordens, den serbischen Takovo-Orden, in St. Petersburg den St.-Stanislaus-Orden. Im Jahr 1893 ernannte ihn Franz Josef I. zum lebenslangen Mitglied des Magnatenhauses.
Der gleichaltrige Ferenc Kossuth, Sohn von Lajos Kossuth, mit dem Gyula seit der Kindheit befreundet ist und der seit April 1906 Minister für Handel und Verkehr ist, überraschte ihn zum Ende seiner Dienstzeit im April 1909 mit der Nachricht, dass ihm der König das Großkreuz des Franz-Joseph-Ordens verliehen hat und er im Ruhestand jährlich 15.000 Kronen erhalten wird.
Geachtet und hilfreich
Ludvigh besaß ein breites Netzwerk an guten Kontakten. Man schätzte ihn, er war aber auch stets bemüht, anderen zu helfen. So fanden sich in seinem Nachlass viele an ihn gerichtete Briefe mit der Bitte, sich für bestimmte Personen, meist Freunde oder Verwandte, einzusetzen. Zu den Absendern zählten ein General, der Finanzminister, Erzherzog Joseph, die Frau des ehemaligen Premierministers und auch Jókai Mór, der sich für einen bei der Bahn tätigen Bekannten einsetzt.
Liebe für Natur und Jagd
Von Gyula Ludvighs Privatleben ist nicht viel bekannt. Seine Arbeit bestimmte sein Leben, die für die Dienstaufgaben zu überbrückenden Entfernungen ließen ihm kaum Freizeit. Wie sein Vater János war Ludvigh Mitglied im ungarischen Karpaten-Verein. Er war Naturfreund und ging gerne zur Jagd. Ein Foto vom 23. Oktober 1895, das im Museum von Gödöllö zu sehen ist, zeigt ihn bei der Jagd mit dem österreichischen Kaiser und ungarischen König Franz Joseph. Zur Jagdgesellschaft gehörte weitere Prominenz, wie Prinz Leopold von Bayern und Prinz Rudolf von Liechtenstein.
Heirat als Pensionär
Genealogischen Dokumenten ist zu entnehmen, dass Gyula Ludvigh erst im Alter von 67 Jahren heiratete. Am 1. Februar 1908 wurde in Budapest die 32 Jahre jüngere Adlige Eleonora Badanyi (1873-1945) seine Ehefrau. Deren Ehe mit Oskar Szirmay (1859-1913) war zuvor geschieden worden. Ludvigh verbrachte seine letzten Jahre mit seiner Frau und deren Tochter aus erster Ehe, der Baronin Maria Hedvig Szirmay, in der zweiten Etage einer Pensionseinrichtung der ungarischen Eisenbahn in der Andrássy út 88 in Budapest. Maria Szirmay, die später in ihre Heimatstadt Kesmark zurückkehrte, berichtet in ihrem Tagebuch von dem luxuriösen Leben in Budapest. So schreibt sie über das Essen „Der Küchenchef bereitete uns jeden Tag Köstlichkeiten wie Kaviar, Muscheln und Forellen.“ Auch das gesellschaftliche Leben war für sie und ihre Mutter durch die Stellung des Gyula Ludwig in Budapest abwechslungsreicher als im kleinen Kesmark.
Tod in Budapest
Gyula Ludvigh hatte einige gesundheitliche Probleme, die er der Familie verheimlichte. Er litt an Atherosklerose, die sein Arzt ihm als unheilbar und tödlich beschrieb. Dazu kam seine Sorge um die Entwicklung des Landes. Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte im Oktober 1918 die Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie und am 16. November 1918 rief Mihály Károlyi die demokratische Republik Ungarn aus. Beides führte bei Gyula Ludvigh zu starken Depressionen. Am 6. Januar 1919 ging er um 10.30 Uhr an seinen Schreibtisch im Arbeitszimmer. Kurz darauf kam die Hausangestellte Maria Savitzka herein und fragte, ob er einen Wunsch hätte. Er verneinte, daraufhin verließ sie den Raum. Gyula Ludvigh war wieder allein, ging vor den Spiegel und schoss sich mit einem Revolver ins Herz. Zu Hilfe eilende Bewohner der Pension, wie Baron József Sterényi und Dr. Sándor Silberer, konnten nur seinen Tod feststellen. Auf dem Schreibtisch fand man seine letzten Zeilen: „Als guter Jäger werde ich das Herz hoffentlich finden und durchschießen.“
Dr. Heinz Schleusener