Zum Gymnasium 857 Kilometer
Gehst Du zum Gymnasium oder stehst Du kurz davor? Welches Gymnasium ist es oder soll es sein? Ist es in der Nähe, wie die Grundschule? Dazu eine weitere Frage: Was kostet das Gymnasium? Das waren genug Fragen und wir geben eine Antwort – aber für das Jahr 1930.
Viktor Müller, genannt Viki, saß gerade an dem einzigen Platz, an dem er Schularbeiten machen konnte. Das war der Küchentisch eines Hauses in der „Grund“ genannten Straße in Metzenseifen/Medzev.
Er blickte zu seiner Mutter auf, die mit einem Brief in der Hand den Raum betrat. Sie sah sehr unglücklich aus. Von ihr erfuhr der zehnjährige Viki, dass ihn das slowakische Gymnasium in Kaschau/Košice nur bei Zahlung der Studiengebühr aufnimmt. Zuvor war bereits der Antrag auf einen gebührenfreien Studienplatz am ungarischen Gymnasium in Kaschau abgelehnt worden.
Gerade Halbwaise
Anfang des Monats, am 10. März 1930, starb sein lange kränkelnder Vater. Dieser kam bei den Schlachten in Italien an der Isonzo, an denen er im Ersten Weltkrieg als 27-jähriger Soldat der Österreichisch-Ungarischen Armee teilnehmen musste, mit eingesetztem Giftgas in Kontakt. Er wurde nie wieder richtig gesund.
Vikis Mutter hatte nun allein ihre drei Kinder zu ernähren. Das schaffte sie durch fleißige Arbeit, aber die Studiengebühr für das Gymnasium über eine Zeit von 8 Jahren konnte sie wirklich nicht aufbringen.
Hilfe vom Pfarrer
Der Metzenseifner Pfarrer Knüppel kannte den aufgeweckten, flinken und stets hilfsbereiten Jungen als einen seiner Ministranten sehr gut. Er versuchte zu helfen, als er von den Ablehnungen erfuhr.
Eines war ihm klar: Alle Gymnasien in der Umgebung verlangten eine Studiengebühr. Wenn er für Viktor weiter entfernt einen kostenfreien Platz finden könnte, dann sollte es ein deutschsprachiges Gymnasium sein.
Was sich dann ergab, schien für Viktors Mutter auf einem anderen Planeten zu liegen: Das „Deutsche bischöfliche Gymnasium“ in Mariaschein/Bohosudov bei Aussig/Ústí. Es war von Metzenseifen 857 Kilometer Bahnstrecke entfernt und mit dreimaligen Umsteigen in etwa 19 Stunden reiner Fahrzeit zu erreichen. Konnte sie ihren Jungen dorthin schicken?
Eigene Entscheidung
Großeltern, Onkel und Tanten sprachen mit Viki über diese neue Lage. Aber Viki hatte sich bereits für das Gymnasium in Mariaschein entschieden. Er wollte viel lernen, um die Mutter später einmal gut unterstützen zu können.
Die erste Fahrt
Als er am 28. August 1930 die lange Fahrt antrat, trug er ein Schild um den Hals, das seine Mutter angefertigt hatte. Es enthielt seinen Namen, die Heimatadresse und die Anschrift seines Ziels, des Gymnasiums.
Es ging vom Bahnhof Metzenseifen zunächst mit dem Zug nach Moldau/Moldava/Szepsi, das damals wie Kaschau zu Ungarn gehörte. In Moldau stieg er in den Zug nach Kaschau um.
Sein Großvater begleitete ihn bis Kaschau und half ihm in ein Abteil der 3. Klasse des Zuges, der über Prag und Kralupy nach Aussig fuhr. Dort musste Viki nochmals umsteigen.
Schnell eingewöhnt
Viki kam müde, aber mit vielen Hoffnungen an. In das Internatsleben konnte er sich schnell einordnen und knüpfte bald dauerhafte Freundschaften. Dies und die gut organisierte Freizeitgestaltung mit viel Sport lenkten ihn von der fehlenden Familie ab. Zuhause freute man sich über seine positiven Briefe, denen manchmal auch Fotos beilagen. Zweimal im Jahr konnte er nach Hause fahren, während der Weihnachts- und Sommerferien.
Viktor (vorne rechts) bei seiner schriftlichen Abiturprüfung im Jahr 1938.
Die Zeit verging schnell
Die acht Jahre im Gymnasium vergingen schneller, als alle vermutet hatten. Viktor lernte gut. So konnte er Ende Juni 1938 das Abiturzeugnis stolz in den Händen halten.
Auf diesem finden wir in dieser Reihenfolge und Schreibweise die Fächer: Röm.-kath. Religionslehre, Deutsche Sprache, Čechoslovakische Sprache, Lateinische Sprache, Griechische Sprache, Geschichte, Erdkunde, Vaterlandskunde, Mathematik, Naturgeschichte, Chemie, Geologie, Naturlehre, Einführung in die Philosophie und Turnen.
Als junger Mann zurück
Spätestens als Viktor im Sommer 1938 auf dem Metzenseifner Bahnhof von der Mutter und den Geschwistern empfangen wurde, wurde diesen klar: Ihr Sohn und Bruder war im 857 km entfernten Gymnasium Mariaschein zu einem selbständigen und selbstbewussten jungen Mann gereift.
Dr. Heinz Schleusener