Im Fokus: Die Deutschen von Teófilo Ótoni im brasilianischen Minas Gerais
Wir stellen Ihnen das ganze Jahr über einmal pro Monat eine andere deutsche Minderheit vor. Dabei blicken wir über den Tellerrand in andere Länder. Dieses Mal werfen wir einen Blick nach Brasilien.
Tropischer Regenwald, Malaria, Typhus, giftige Insekten und Schlangen, feindselige Eingeborene, prekäre Wohngelegenheiten und ungewohnte Ernährung. Damit müssen die ersten deutschen Siedler im damaligen Philadelphia, dem heutigen Teófilo Ótoni , zurechtkommen.
Der Zeitzeuge Franz Schaper aus Hannover, beschreibt das so: „In Philadelphia angekommen, wurde uns ein Stück Land zugewiesen, eine Meile von der Stadt entfernt. Hier stand eine einfache kleine Hütte aus Palmenlatten gebaut und der kleine Bau war Küche, Schlafkammer und Wohnraum zugleich und zwar für zwei Familien (Weberling und wir). An Not und Krankheit fehlte es nicht. Wir bekamen das böse Fieber, an welchem dann auch der alte Weberling starb. Die Indianer kamen auch und nahmen uns alles ab.“1
Erste Siedler in Philadelphia
Am 23. Juli 1856 treffen die ersten Kolonisten in Philadelphia ein. Sie kommen aus allen Teilen Deutschlands. Sie haben sich auf Zeitungsanzeigen der „Companhia de Comércio e Navegaçao do Mucuri“ gemeldet. Diese Gesellschaft unter Führung des liberalen Politikers Teófilo Ottoni hatte sich die Besiedlung und Erschließung des Nordostens des Staates Minas Gerais zum Ziel gesetzt.
Ein wichtiger Schritt ist der Bau einer 180 Kilometer langen Straße für Ochsenfuhrwerke durch den Urwald nach Santa Clara, zum schiffbaren Teil des in den Atlantik mündenden Mucuri-Flusses, um eine Verbindung zur damaligen Metropole Rio de Janeiro herzustellen. Die Siedler verpflichten sich, am Bau der Straße teilzunehmen und erhalten dafür ein Stück Land, das sie urbar machen und bewirtschaften sollen: 220 Meter breit und 3300 Meter tief (72,6 Hektar).
Die Straßenbauarbeiten gestalten sich als sehr schwierig. 174 Flussläufe sind mit Holzbrücken zu überwinden. Aber schon 1857 ist das Bauwerk beendet und damit die Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung gelegt. 1867 und 1868 kommen weitere deutsche Siedler, vorwiegend aus Sachsen. Eine dritte Einwanderungswelle gibt es 1922 bis 1924, die meisten aus Berlin und Umgebung. Die Menschen wollen dem Elend nach dem Ersten Weltkrieg entfliehen. Sie leisten einen bedeutenden Beitrag vor allem für die wirtschaftliche Entwicklung der heute über 140.000 Einwohner zählenden Stadt. Jeder Dritte hat deutsche Vorfahren.
Als ich während meines mehrjährigen beruflichen Aufenthaltes in Brasilien 1992 mit meiner Familie auf einer Urlaubsreise an die Küste Bahias im Zentrum von Teofilo Otoni eine Pause einlege, weiß ich von alledem nichts. Allerdings steht im Zentrum der Stadt, auf dem Praça Germânica eine große Statue zum Gedenken an die deutsche Einwanderung mit einer bemerkenswerten Tafel. Ich bin beeindruckt, mache Fotos und nehme mir vor, mich später mit dem Thema zu befassen.
Erst im Sommer 2010, wir leben wieder in Deutschland, kommen wir darauf zurück. Informationen in der einschlägigen Literatur sind sehr spärlich. Aus dem Internet erfahren wir, dass es in Teófilo Otoni seit 1986 einen deutschen Kulturverein gibt: ACDATO – Associaçao Cultural dos Descendentes Alemães em Teófilo Otoni (Kulturverein der Deutschstämmigen von Teófilo Otoni).
Wir nehmen mit Frau Dalva Neumann-Keim, Gründungsmitglied und Vorsitzende des Vereins, Kontakt auf und machen uns auf die Reise.
Lebendige Gemeinschaft
Was wir sehen und erfahren, beeindruckt uns. Eine lebendige Gemeinschaft ist dabei, ihre deutschen Wurzeln freizulegen, zu dokumentieren, an die Jugend weiterzugeben und mit vielfältigen Aktivitäten deutsche Kultur und Gebräuche wieder zu beleben und zu erhalten. Das gilt auch für die deutsche Küche. Es gibt Volkstanzgruppen für Kinder und für Jugendliche.
Der von einem deutschen Gastpfarrer gegründete Posaunenchor der evangelischen Kirche wirkt an Veranstaltungen des Vereins mit. Im städtischen Kulturhaus zeigt eine Ausstellung Fotos aus der Kolonistenzeit. Der erste Fotograf in Philadelphia war der Deutsche Heinrich Pietsch.
Die Liste der Deutschen, die sich besonders um die Entwicklung der Stadt verdient gemacht haben, enthält eine Kuriosität: Der Apotheker Bruno Rudolph verfasste ein Wörterbuch, in dem die Sprache der eingeborenen Botokuden ins Deutsche übertragen wurde. Der erste Bier- und Wurstfabrikant war ein gewisser Herrmann Meltzer.
Ein Fest der deutschen Abstammung
Der berühmteste und heute noch hochgeachtete Bürger von Teófilo Otoni ist der aus Wertheim (Baden) stammende Pastor Leonhard Hollerbach, geboren 1835. Sechs Jahre mussten die ersten Siedler ohne geistlichen Beistand und ohne Lehrer auskommen bis er 1862 seine Pfarrstelle antrat. In seinem Haus, das er mit Schulden finanzieren musste, gab er auch Schulunterricht. Bibel und Gesangbuch sind seine ersten Schulbücher.
Er unterrichtet Kinder aller Nationen, Rassen und Glaubensrichtungen. Unter schwierigen Bedingungen betreut er seine weit verstreut lebende Gemeinde 37 Jahre lang bis zu seinem Tod 1899. Bei seinem Begräbnis läuten auch die Glocken der katholischen Kirche. Zu seinen Hinterlassenschaften gehören nicht nur die von ihm gelebten Werte wie Gottvertrauen, Hilfsbereitschaft, Pflichtbewusstsein, Fleiß und Toleranz.
Als seine Witwe 1934 im Alter von 90 Jahren verstirbt, hinterlässt sie 7 Kinder, 56 Enkel ,73 Urenkel und zwei Ururenkel. Eine Schule und eine Straße sind nach ihm benannt. 2012, das 150. Jahr seiner Ankunft in Philadelphia hat die Stadt zum „Pastor- Hollerbach- Jahr“ ausgerufen. Da im gleichen Jahr auch wieder das „Fest der Deutschen Abstammung“ ansteht, nehmen wir eine Einladung zu einem erneuten Besuch gerne an.
Beeindruckende Begegnungen
Bei beiden Besuchen gibt es ein dicht gedrängtes Programm. Dabei lernen wir viele Deutschstämmige kennen. Einige wenige sprechen noch deutsch. So die 89-jährige Witwe Ursula Wnuk, geb. Gade. Sie lebt seit ihrer Geburt 1923 in der Kolonie Francisco Sá. Ihre Eltern haben sich 1922 hier niedergelassen. Lebhaft und mit erstaunlicher geistiger Frische berichtet sie aus ihrem Leben, ihrer Kindheit und von ihrer Mutter, die das Leben im brasilianischen Urwald und das ewige Reis- und Bohnen-Einerlei satt hatte, zurück in die Heimat wollte und wie ihr Vater dagegen hielt: „Zu Hause konnten wir uns noch nicht einmal eine Schachtel Zündhölzer kaufen!“
Die deutschstämmige Bürgermeisterin, Dona Maria José Haueisen Freire, empfängt uns mit ihrer gesamten Stadtregierung in ihrem Amtssitz zu einem längeren Gespräch. Der Vorstand des Kulturvereins ist auch dabei. Auf einem von der Stadt veranstalteten Festakt zum Gedenken an Pastor Hollerbach im Stadtparlament werden wir besonders begrüßt und müssen neben der über 93-jährigen Enkelin des Geehrten Platz nehmen.
Wir werden mit großer Herzlichkeit wie Ehrengäste behandelt, obwohl wir keinerlei Verdienste aufweisen können. Es ist einfach nur, weil wir aus Deutschland kommen, weil wir Deutsche sind. Eine ganz besondere Erfahrung.
In einem kürzlich mit Frau Neumann Keim geführten Telefonat erfahren wir: Sie ist weiterhin aktiv, der Verein lebt und sie hat kürzlich gemeinsam mit einer Koautorin ein weiteres Buch herausgegeben mit Lebensbildern deutscher Zeitgenossen in Teófilo Ótoni „zwischen 40 und 105 Jahren“. Und sie fragt: „Wann kommt Ihr mal wieder vorbei?“
Text und Fotos: Rudolf Göllner
1Max Rothe, 100 anos de Colonização Alemã em Teófilo Ótoni, 1956
2Dalva Neumann Keim, Pastor Johann Leonhard Hollerbach e Teophilo Benedicto Ottoni, Teofilo Otoni 2012