Der gebildete Mensch am Beispiel eines großen Zipsers
Karl Krauß aus Schwedler war ein gebildeter Mensch. Nach schweren Leiderfahrungen begegnete er den Menschen in seinen letzten Lebensjahren als ein freundlicher und glücklicher Mensch.
Wir leben in einer Zeit, die unsere Existenz bedroht: Kriege, Energiekrise, gesellschaftlicher Wandel stellen uns vor unglaubliche Herausforderungen. Im postfaktischen Zeitalter, in dem Fake News, Verschwörungsmythen und Querdenker Konjunktur haben und oft felsenfest davon überzeugt sind, dass sie recht haben, sich aber dadurch von der Wirklichkeit entkoppeln. Hier stehen nicht mehr die sachlich und ethisch begründeten Lebenszusammenhänge im Mittelpunkt, sondern die eigenen Interessen und Wünsche. Gefragt ist der gebildete Mensch.
Ein gebildeter Mensch ist jener, der fähig ist, sein Leben sinnerfüllt zu gestalten. Das ist ein Mensch, der in sich ruht, der weiß, was er kann und was er nicht kann. Dieser Mensch hat mehr Bildung als einer mit großen Bildungsabschlüssen und damit angibt.
Der gebildete Mensch erfindet nicht aus seinem Ego heraus seinen Auftrag in dieser Welt, sondern er entdeckt ihn. Dieser Auftrag liegt in ihm selbst und er wartet darauf, verwirklicht zu werden. Das ist ganz unabhängig vom Wissen und der Intelligenz, denn das Aufgegebene liegt in ihm selbst begründet.
Der gebildete Mensch liebt es mit Menschen zusammen zu sein, mit ihnen zu denken, mit ihnen zu arbeiten und mit ihnen zu fühlen, mit ihnen Freud und Leid zu teilen. Hier ist er authentisch. Er handelt ganz unmittelbar. Das zeigen neueste Forschungsergebnisse aus Psychologie und Neurowissenschaft: Echte Freundlichkeit macht glücklich. Darauf macht uns Herr Krauß aufmerksam.
Erinnerung an Herrn Krauß ist geboten
Daran erinnert der Beitrag in der ZIPSER TRILOGIE (Band III, S. 26-28) „Schicksale der daheimgebliebenen Karpatendeutschen am Beispiel Karl Krauß (1995)“, den wir Franz Richweis, Gründer und langjähriger Vorsitzender der OG Schwedler des KDV, verdanken: „Einer von vielen Karpatendeutschen in der Slowakei ist Herr Karl Krauß aus Schwedler […]. Nach 18 Monaten Militärdienst in Deutschendorf/Poprad war er arbeitslos im sogenannten Hungertal (hladova dolina). Auf der Wanderschaft und Arbeitssuche kam er bis nach Böhmen, wo er auch Arbeit fand. […] In seinem Fach arbeitete er bis 1944, also bis zur Evakuierung. Nach Kriegsende 1945 kehrte er heim. Er fand als Karpatendeutscher in der neuen ČSR keine Arbeit. […]
Nach Kriegsende 1945 verloren aufgrund der Benesch-Dekrete alle Deutschen die Bürgerrechte und das gesamte Vermögen. Es wurde alles konfisziert. Im Mai wurde Herr Krauß mit seiner Familie in die Schule, die als Gefängnis diente, eingesperrt. Warum? Weil sie Deutsche waren. […]
‘Ich wurde zum Verbrecher abgestempelt‘, sagte mir Herr Krauß. Von wem – und warum? […] Herr Krauß erzählt weiter: ‘Eines Abends im Juni wurden wir – etwa 50 Männer aus Schwedler – in die Schule gerufen und unter strengster Bewachung vor das Rathaus geführt. […] Von beiden Türmen läuteten die Glocken – und wir wurden abgeführt. Wurde uns ausgeläutet? Viele haben das bei sich gedacht. […] Wir wurden alle nach Göllnitz gebracht. […] Das Grauen in diesem Lager lässt sich nur schwer beschreiben. Nach drei Monaten Kerker wurde mir dann der Prozess gemacht. Ich kam vor das Volksgericht. Mir wurde vorgeworfen, ich hätte der deutschen Wehrmacht beim Sprengen der Brücken geholfen. Das Volksgericht fand aber keinen einzigen Beweis gegen mich. Nach vielen Verhören und Schikanen wurde ich dann endlich nach Hause entlassen. Ich wurde also frei gelassen. Welch ein magisches Wort! Aber wie sah damals mein zu Hause bei meiner Familie, meiner Frau und den Kindern aus?
Ich fand sie im ausgeraubten und leeren elterlichen Haus. Das Elend war in jeder Ecke. Meine Frau und meine drei Kinder freuten sich, dass endlich ihr lieber Vater wieder bei ihnen ist. […] Endlich fand ich Arbeit in Schwedler.‘
Langsam und mit Fleiß hat Herr Krauß seiner Familie wieder ein zu Hause geschaffen. Arbeit, Fleiß und Gottesfürchtigkeit zeichnen von jeher die Karpatendeutschen aus. Als Fachmann wurde er endlich als Brückenmeister wieder bei der Eisenbahn angestellt. 1969 ging er in die wohlverdiente Rente.
‘Die Zeiten waren schwer‘, sagte Herr Krauß. ‘Wir haben sie überstanden. Heute danken wir Gott dem Allmächtigen, dass er uns auch in der schwersten Zeit beschützt hat. Wir sind alt geworden – in der Heimat, im eigenen Heim. Und im Kreise unserer Familie freuen wir uns gemeinsam und bitten unseren lieben Herrgott: Herr, gib uns Frieden, beschütze unsere Heimat, das schöne Zipserland!‘“
Wir sehen und erkennen
Die Existenz von Herrn Krauß war mächtig bedroht. Mit geistiger Kraft überwand er schwere Leiderfahrungen. Er konnte im Kreise seiner drei Kinder und Freunde am 26. Juni 2009 seinen 100. Geburtstag im festlichen Rahmen in der Schwedlerer Gaststätte „Am Adla“ begehen.
Ferdinand Klein