Zweiter Weltkrieg Zeitzeugen berichten

Die verlorene Tochter

Es ist eine sehr schmerzhafte Geschichte, die meiner Mama, Frau Anna Müller geb. Patz aus Einsiedel an der Göllnitz/Mníšek nad Hnilcom passiert ist. In der schweren Zeit des Zweiten Weltkrieges ist meine Mama als sechsjähriges Mädchen krank geworden und sie wurde mit einer Lungenentzündung auf der Kinderabteilung im Krankenhaus in Krompach/Krompachy hospitalisiert. Nach einem kurzen Aufenthalt im Krankenhaus wurden die Kinder ohne Eltern nach Deutschland transportiert. Als die Eltern ins Krankenhaus kamen, konnten sie nur weinen, denn sie dachten, dass sie ihre Tochter für immer verloren hatten.

So wurde meine Mama mit sechs Jahren alleine in die weiten Welt gebracht – in die deutsche Stadt Hannover. Dort wurden die Kinder in die Obhut von Familien gegeben. In die Familie wurde sie als Dienstbote aufgenommen, ihre Belohnung waren oft Schläge. Sie war mit zwei Jungs in der Familie, die sie immer gewarnt haben, wenn die Wirtin schlechte Laune hatte. Ihre Eltern zuhause hatten derweil keine Ahnung, wo sich ihre Tochter befand oder ob sie überhaupt noch am Leben war.

Auf der Suche nach der Familie

Nach dem Krieg kam die Mama in ein Waisenhaus, dann ging es ihr ein wenig besser. Die Verwaltung bemühte sich intensiv herauszufinden, ob die Kinder noch Eltern haben. Auch meine Großeltern haben nie die Hoffnung aufgegeben, ihre Tochter noch einmal zu finden. So verbrachte meine Mama ohne Familie und Angehörige ganze vier Jahre in Deutschland, sie wusste aber, dass sie Anna Patz heißt und aus Einsiedel an der Göllnitz kommt. Nach beidseitiger Suche erfuhren ihre Eltern eines Tages durch das Rote Kreuz Fulda, dass sie in einem Waisenhaus in Hannover ein Mädchen haben, das ihrer Suche entspricht. So wurden sie aufgefordert, ein Familienfoto zu schicken. Nach vier Jahren flammte bei den Eltern ein Funken der Hoffnung auf, dass ihre Tochter noch am Leben sein könnte. Meine Mama erkannte alle Familienmitglieder auf dem Foto, beschrieb sie und so kam aus Fulda die Freudenbotschaft nach Einsiedel: „Ja, das ist ihre Tochter, sie kennt alle auf dem Foto!“

Zweiter Weltkrieg Zeitzeugen berichten
Das historische Familienfoto

Es hat nicht lange gedauert, bis eine interessierte Krankenschwester meine Mama in einem Zug, mit dem mehrere Kinder heimkehrten, nach Prag bringen konnte. Mein Großvater fuhr gleich von Einsiedel aus nach Prag, um seine Tochter abzuholen.

Zweiter Weltkrieg Zeitzeugen berichten
Die Krankenschwester, die meine Mama nach Prag brachte.

Im Zug nach Hause

Dort angekommen, ging er durch den ganzen Zug und fand seine Tochter nicht. Es wurde ihm flau ums Herz, er ging den Zug das zweite Mal durch und sah in der Ecke ein kleines Mädchen (das inzwischen schon zehn Jahre alt war) schlafen und auf ihrem Gepäck lag eine rosarote, gestrickte Jacke, die ihr noch ihre Mama gestrickt und in das Krankenhaus in Krompach mitgegeben hatte. An dieser Jacke erkannte der Vater seine Tochter. Er setzte sich zu ihr und wartete ab, bis sie wach wurde. Als meine Mama aufwachte, grüßte sie höflich den Mann, der neben ihr saß, mit den Worten: „Guten Tag, Onkel!“ Leid drückte auf sein Herz und die Tränen schossen ihm in die Augen, als er sah, dass seine Tochter ihn nicht erkannte.

Die Fahrt von Prag bis nach Einsiedel war lang genug, um der Tochter von dem Zuhause zu erzählen, an das sich das Kind noch erinnern konnte und sie so zu überzeugen, dass er ihr Vater ist. Eine große Hilfe bei dem Gespräch waren die Katze, die Ziege und alle Tiere, die sie damals daheim gehabt hatten. Nach einer langen Zeit sagt seine Tochter „Papa“ zu ihm.

Rückkehr nach Einsiedel

Zuhause liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren, das Haus wurde geputzt, weil die Mama nach vier Jahren ihre verlorene Tochter erwartete. Meine Oma wischte gerade den Boden, als ihre Tochter ins Haus trat. Es kam der zweite Schock, als sie fragte: „Papa, warum hat diese Tante so schmutzige Hände?“ Meine Oma fing zu weinen an und fragte ihren Mann: „Hast du wirklich unsere Tochter gebracht?“ Nach vielen Erklärungen und noch mehr Emotionen war die ganze Familie wieder beisammen.

Eine Familie findet wieder zusammen

Für meine Mama war es nicht leicht, sich wieder zuhause einzugewöhnen. Sie kam mit zehn Jahren in die erste Klasse und beherrschte kein Wort Slowakisch. In der Schule war es streng verboten, Deutsch zu sprechen. Ihre Mitschülerin, die Mantakisch sprach, sollte ihr helfen, sich zu verständigen. Die Mädchen hatten aber ein Kommunikationsproblem.

Zweiter Weltkrieg Zeitzeugen berichten
Meine Mama

Die Lehrerin erklärte einmal im Unterricht etwas, als meine Mama die Freundin fragte: „Was sagt sie?“ und sie bekam die Antwort: „Bos sogst?“

Gott sei Dank ist sie schrittweise ins normale Leben zurückgekehrt, auch dadurch, dass sie in den Ferien lernte. Ihre Erinnerungen an die schmerzhaften Zeiten haben aber tiefe Wunden in ihrem Herzen eingraviert. Das sollte nie mehr einem Kind passieren. Meine Mama ist schon nicht mehr unter uns, aber sicher hätte sie sich darüber gefreut, dass ihr Schicksal veröffentlicht wurde.

Erika König

(Tochter von Anna Müller, geb. Patz)