Ukraine

Eine persönliche Stimme angesichts des furchtbaren Kriegsgeschehens

Ich bin fassungslos über den von Diktator Putin in Gang gesetzten Krieg im Nachbarland Ukraine. Das große Elend: Tote, Flüchtlinge, Schmerz, Hunger, massivste Zerstörungen und Durst und nun auch noch ganz aktuell der Angriff auf ein Kernkraftwerk. Unglaublich – und niemand kann ihn stoppen. Wie auch? Möge doch eine weltweite Revolution in Gang kommen, die sich an Albert Schweitzers Lebensprinzip der „Ehrfurcht vor dem Leben“ orientiert.

Albert Schweitzer (1875 – 1965), deutsch-französischer Arzt, Philosoph, Theologe, Organist, Musikwissenschaftler, Pazifist und Friedensnobelpreisträger, hatte auf eine wissenschaftliche und künstlerische Karriere verzichtet und baute zusammen mit seiner Frau Helene ein Krankenhaus im afrikanischen Lambarene auf. Mit dieser Entscheidung folgte er bis zu seinem Tod dem universalen Grundprinzip seiner Lehre: Der „Ehrfurcht vor dem Leben“, das er aus dem gelebten Leben gewann:

Das Leben überhaupt ist gleichbedeutend mit dem Lebenswillen, der tief im Leiblichen verankert ist. Dieses Prinzip lässt sich folgendermaßen gliedern:

Gut und wahr ist: das Leben zu erhalten; das Leben zu unterstützen; das Leben zu begleiten; sich entwickelndes Leben auf den ihm möglichen Stand zu bringen.

Böse und unwahr ist: das Leben zu vernichten; das Leben zu beschädigen; das Leben zu stören; das sich entwickelnde Leben zu behindern.

Gut und wahr ist das Sich-Hingeben an den Lebenswillen des anderen Menschen, des Lebendigen in der Natur überhaupt.

Albert Schweitzer
Das Kind fühlt sich in Albert Schweitzers Armen geborgen

Praxis der Welt- und Lebensbejahung

Schweitzers ethische Haltung erwächst aus einer tief verwurzelten Lebens- und Weltbejahung. Er war sich für alltägliche einfache Arbeit nicht zu schade und zeigte allen Widerständen zum Trotz, dass ein guter Geist stärker ist als die Macht der politischen Verhältnisse.

Schon in jungen Jahren sah Schweitzer seine Aufgabe darin, für den anderen Menschen zu wirken. Allein die Besinnung auf das im Leben widerfahrene Glück führte ihn zur Einsicht, dass jeder das Gute, das er empfängt, an andere Menschen weitergeben müsse. Mehr noch: Er staunte und erkannte, dass die Hingabe für den anderen Menschen und für die Aufgabe ein größeres Glück bedeuten, als das unablässige Sich-Kümmern um das eigene Wohl. Aus dieser gelebten Mitmenschlichkeit entwickelte er seine Lebensaufgabe, seinen Dienst für kranke, behinderte und arme Menschen. Er regelte und löste in einer Atmosphäre des Vertrauens die vielfältigen alltäglichen Probleme. Beharrlich führte er den stillen Kampf gegen Gleichgültigkeit, Herzenskälte und Herrschsucht.

Den Kinderglauben an das Gute bewahren

Schweitzer hat sich den unverlierbaren Kinderglauben an das Gute bewahrt: Ich bin der Zuversicht, dass der aus der Wahrheit kommende Geist stärker ist als die Macht der Verhältnisse. Meiner Ansicht nach gibt es kein anderes Schicksal der Menschheit als dasjenige, das sie sich durch ihre Gesinnung selber bereitet […]. Weil ich auf die Kraft der Wahrheit und des Geistes vertraue, glaube ich an die Zukunft der Menschheit. Ethische Welt- und Lebensbejahung enthält optimistisches Wollen und Hoffen unverlierbar in sich. Darum fürchtet sie sich nicht davor, die trübe Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.“

Antwort auf kritische Gegenstimmen

Es gibt zu diesem Denken kritische Gegenstimmen, die meinen, in Schweitzer ein Vorbild zu sehen, sei doch nur eine Art Lebertran, den jeder mit Widerwillen schluckt. Das mache unsicher, reizbar und fordere auf erdrückende Weise den Menschen heraus, weil er ihm doch nicht folgen könne. Vorbilder seien doch nur prunkvolle Nutzlosigkeiten und Fanfarenstöße einer verfehlten Erziehung, bei denen man sich die Ohren zuhält. Deshalb gehören sie auf den Speicher der Vergangenheit. Jeder soll vielmehr sein eigenes Vorbild werden.

Dieser harschen Kritik hätte Schweitzer zugestimmt, denn er verstand sich nicht als maßgebende moralische Persönlichkeit. Er lehnte eine Heldenverehrung entschieden ab, denn er hatte aus innerer Notwendigkeit gehandelt, ohne Rücksicht darauf, ob sein Tun Anerkennung fand oder nicht. Er verstand sich nicht als Wegweiser für andere Menschen. Vielmehr zeigte er den Weg, den jeder aus selbstgewählter Verantwortung beschreiten, dabei eingefahrene Gleise verlassen und seinen Weg finden kann. Es ging ihm um ein Schärfen der eigenen Kompetenz in der Begegnung mit Menschen, mit der Kultur und Natur, damit er den Blick frei für eigene Entscheidungen bekommt, die jeder kritisch prüfen und dann für sich verbindlich erklären kann.

Räume der Menschlichkeit schaffen

Durch diese selbstkritische Haltung kann sich jeder auf das Wesentliche seines Lebens und seines Berufes besinnen und entdecken, dass die Arbeit, die er für andere Menschen tut, einen Wert für ihn, für andere und darüber hinaus einen bleibenden Wert hat.

Durch die wohlwollende Haltung gegenüber sich selbst, gegenüber der Mitwelt und Natur entstehen Räume der Menschlichkeit. Diese urmenschliche Haltung ist das Erste und Wichtigste der Erziehung, die nicht durch methodische Tricks oder durch das, was geredet wird, wirkt, sondern durch das, was der Mensch in der Tiefe seines Herzens ist und will.

Fazit

Es geht mir in meiner Wissenschaft und Lebenspraxis um Wahrheitssuche, um das Bewusstmachen des geistigen Erbes unter den Bedingungen der Zeit – und nicht um Sicherheitssuche. Es geht um eine Revolution der Herzen.

Prof. Dr. Dr. et Prof. h.c. Ferdinand Klein