Über die Leidensfähigkeit von Flüchtlingskindern
Die Corona-Krise in Deutschland ist zwar nicht überstanden, aber die staatlich verordneten Einschränkungen werden nach und nach aufgehoben. Nach anfänglich breiter Zustimmung wird nun nach ziemlich erfolgreicher Virusbekämpfung von vielen Besserwissern mehr und mehr Kritik laut, vor allem auch in Bezug auf die Leiden der Kinder, die nicht in die Kitas, nicht auf die Spielplätze und nicht in die Schule durften.
Politiker, Psychologen, Mediziner und andere äußern Bedenken und fürchten um das Kindeswohl. Die Bildzeitung malt gar eine „Bildungskatastrophe“ an die Wand. Der bekannte Sportmediziner Prof. Dr. Perikles Simon beklagt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass Kinder und Jugendliche „seit langem keine körperliche Interaktion und kein adäquates Bildungsangebot mit Gleichaltrigen hatten.“ Es geht, wohlgemerkt, um wenige Monate.
Blick zurück
Schauen wir zurück: Im September 1944 werde ich als Zweijähriger, gemeinsam mit meinen ein-, drei- und vierjährigen Geschwistern, Mutter und Großeltern im Heimatort Einsiedel in den Zipser Gründen auf einen LKW der Wehrmacht verfrachtet und in ein Lager in das über 800 Kilometer entfernte Ladowitz im Sudetenland transportiert. Acht Monate Lagerleben folgen. Spiel, Spaß und „körperliche Interaktion“ sind nicht angesagt. Der Hunger ist unser Begleiter.
Nach Kriegsende geht es per Bahntransport (Viehwaggon) zurück in die Heimat, aber nicht ins eigene Heim, sondern in ein Lager in Bad Thurzo bei Göllnitz. Hier erkrankt die Mutter an Typhus, sie kann sich lange nicht um die Kinder kümmern, die Großmutter weicht nicht von ihrem Bett und rettet ihr wahrscheinlich durch ihre Tag- und Nachtpflege das Leben. Eine Tat, die ich erst im Alter in ihrer Bedeutung für uns Kinder und unser späteres Leben richtig einzuschätzen und zu würdigen weiß.
Nach langen Monaten geht es dann von Bad Thurzo über Deutschendorf/Poprad mit der Bahn nach Korbach in Nordhessen. Eine fast 1500 Kilometer lange Strecke, für die man heute im Zug 21 Stunden benötigt. Damals waren Umwege erforderlich und der Transport dauert Wochen. Bei den vielen Unterbrechungen versucht die Großmutter Witkowsky Milch für uns Kinder zu organisieren, ständig in der Angst lebend, dass der Zug ohne sie weiterfahren könnte. Einen Fahrplan gibt es ja nicht. In Korbach ist ein weiterer Lageraufenthalt in einem umfunktionierten Schulgebäude erforderlich, bis wir schließlich nach fast genau zwei Jahren in dem Dörfchen Ammenhausen ankommen. Und die Anfangszeit dort kann man auch nicht gerade als Wohlleben bezeichnen.
Schule nach dem Krieg
Wir gehen in die Zwergschule des Dorfes: ein Klassenraum, ein Lehrer, acht Klassen mit insgesamt 30 bis 40 Schülern. Alles nicht gerade dem heutigen Bildungsideal entsprechend. Aber wir lernen: lesen, schreiben, rechnen. Genug, um die Aufnahmeprüfungen in den weiterführenden Schulen in Bad Arolsen zu bestehen. Es folgen Berufsausbildung und/oder Studium. Wir sind wie die meisten unserer vertriebenen Schicksalsgenossen, von denen es viele sicher noch schlechter getroffen haben, alle „etwas geworden“.
Den lauten Kritikern der Regierenden und der Wissenschaftler aus Virologie und Epidemiologie, den um die Demokratie Fürchtenden, wäre zu empfehlen, sich mit diesem Aspekt der jüngeren deutschen Geschichte zu befassen. Das könnte zu einer gelasseneren Betrachtung der heutigen Situation führen, insbesondere der Probleme von Kindern und Jugendlichen. Wenig Hoffnung bezüglich ihrer Lernfähigkeit habe ich allerdings bei den zahlreichen Verschwörungstheoretikern, die die Krise leugnen oder sie als Erfindung eines Bill Gates darstellen. Denen ist offensichtlich die Vernunft völlig abhandengekommen.
Rudolf Göllner
Eigentlich waren wir Vertriebene, wurden aber im damaligen Sprachgebrauch Flüchtlingskinder genannt. Anfang der 50er Jahre in Ammenhausen: Gottfried, Ruth, Rudolf und Karl Göllner. Die Bekleidung besteht im Wesentlichen aus von der Mutter Selbstgenähtem, Teilen aus amerikanischen Care-Paketen und aus hartem, weißen Baumwollgarn gestrickten Kniestrümpfen, die wegen ihrer kratzigen Eigenschaft gern herabgelassen getragen wurden.