Unsere Kesmarker jüdischen Mitschüler
Das ehemalige Deutsche Evangelische Gymnasium in Kesmark, unsere Alma Mater Kesmarkiensis kann auf eine einzigartige, lange Geschichte zurückblicken. In zahlreichen Publikationen haben sich Autoren mit dieser, nur etwa mit dem Honterusgymnasium in Kronstadt (Siebenbürgen) vergleichbaren, in Südosteuropa sonst einmaligen deutschen Bildungsanstalt beschäftigt. Doch es ist auch mit einem dunklen Kapitel der Geschichte verbunden.
Erst vor wenigen Jahren, als das heutige slowakische Pavol Országh Hviezdoslav-Gymnasium – als Nachfolger der 1927 errichteten slowakischen Parallelklassen unserer altehrwürdigen Anstalt – seine 75-Jahr-Feier beging, gedachte man in der Festschrift auch der Jahrhunderte alten gemeinsamen Schulgeschichte und erinnerte dabei auch an unsere letzten gemeinsamen Lehrer wie die Professoren Grosz, Liptak und Weiszer sowie an Direktor Karl Bruckner. Nationale und religiöse Toleranz zeichneten diese Anstalt über Jahrhunderte aus.
Angehörige mehrerer christlicher Religionen sowie eine bis 1939 auch große Zahl von jüdischen Mitschülern „verhielten sich zueinander kameradschaftlich“ wie Professor Liptak in seiner Festschrift 1933 zur 400-Jahr-Feier des Lyzeums ausdrücklich resümierte.
Was aber blieb von dieser Toleranz nach 1939?
Was blieb nach diesem gefeierten Jahr der Gründung der Slowakischen Republik von Hitlers Gnaden übrig? An einem Septembertag 1939 mussten alle jüdischen Mitschüler das Gymnasium für immer verlassen. Ihr zahlenmäßiger Anteil betrug im Durchschnitt der letzten Jahre immerhin circa zwölf Prozent von der Gesamtschülerzahl.
Vor circa acht Jahren habe ich aus Kesmark ein von Ingenieur Mikulas Liptak herausgegebenes Büchlein mit einer umfangreichen CD erhalten, das sich mit der Geschichte der Kesmarker Juden und in einem Sonderkapitel auch mit den Juden in unserer ehemaligen Schule sehr eingehend beschäftigt. Maßgeblich beteiligt war daran auch die Kesmarker Historikerin Nora Baratova. Zusammen mit den diesbezüglichen Publikationen in den Karpatenjahrbüchern und den großen Slowakeibüchern von Ernst Hochberger mit den Beiträgen über das Judentum in der Slowakei im Allgemeinen, lässt sich ein einigermaßen umfassendes Bild der letzten Jahre unserer jüdischen Mitschüler rekonstruieren.
Ergänzen konnte ich die Übersicht durch einen früheren Briefkontakt mit einer ehemaligen Kesmarker Maturantin von 1921, die in Tel-Aviv lebte: Aranka Cohen, geb. Glasner aus Zipser Bela, und eigenen Erinnerungen aus meiner Kesmarker Schulzeit mit den seinerzeitigen jüdischen Mitschülern und Freunden.
Auch durch meinen Briefkontakt mit dem Sohn des ehemaligen jüdischen Religionslehrers, dem Herrn Saul Gassner aus Rechovot (Israel), dem einzigen Überlebenden seiner Großfamilie, konnte ich aber bei der Suche nach meinem damaligen jüdischen Schulfreund Alexander Brodmann nur erfahren, dass er mit seinen Eltern und Bruder laut Kesmarker Transportliste im Sommer 1942 abtransportiert wurde. Erst vor wenigen Tagen habe ich per E-Mail von Yad Vashem aus Israel einige Listen mit den Namen von Kesmarker Juden, darunter auch allen vier Brodmann-Familienangehörigen, alle mit dem erschütterndem Vermerk „ermordet“ erhalten.
Erinnerungsarbeit leisten
Manche von uns haben 1942 den Abtransport der Juden aus der Slowakei noch als Kinder oder als Jugendliche miterlebt. Unsere Eltern erzählten uns damals etwas von einer Umsiedlung und glaubten wohl auch selbst daran. Erst nach dem Krieg wurde den meisten von uns allmählich bewusst, was für ein ungeheuerliches Geschehen sich da vollzogen hatte und welch grausames Schicksal unsere ehemaligen jüdischen Mitschüler in den Vernichtungslagern erleiden mussten.
Darum sind wir Angehörigen der Erlebnisgeneration geradezu verpflichtet, unsere Nachkommen immer wieder an diese Gräueltaten zu erinnern, denn leider werden zu wenig Lehren aus der Geschichte gezogen. Das beweisen derzeit die immer häufigeren Nachrichten über Rassismus, Antisemitismus und Holocaustleugner auch bei uns.
Ernst Walko