Als ich in Frankreich studierte, sollte ich für einen Blog schreiben, der von uns Journalismus-Studenten betreut wurde. Meine Kommilitonen schrieben über ernste Themen wie Ökologie oder die Kultur Südfrankreichs. Mein Dozent aber bat mich, etwas Persönliches zu schreiben, über meine Erfahrungen als ausländische Studentin und die Kultur meiner Heimat.
Dann spazierte ich durch meine Lieblingsstadt Aix en Provence und sah mich um. Ich versuchte Fußabdrücke meiner Herkunft und meiner Wurzeln zu finden. Ich fand das Haus, in dem der tschechische Komponist Bohuslav Martinů während des Zweiten Weltkrieges lebte. Im Anschluss kaufte ich ein Buch von Milan Kundera in einem Antiquariat. Die Themen für den Blog kamen einfach zu mir, ich musste nur meine Augen offen halten.
Als mein Auslandssemester fast zu Ende war, bereitete ich ein Quiz für meine Kommilitonen über Mitteleuropa vor. Es beinhaltete nicht nur Fragen zur Slowakei, sondern auch zu Tschechien, Ungarn und Polen. Zum Beispiel fragte ich nach der Nationalität von Chopin. Alle gingen davon aus, dass er Franzose war.
Bevor ich nach Deutschland reiste, traf ich einen französischen Freund und stellte ihm dieselbe Frage. Ich war überrascht, dass auch er mir sagte, Chopin sei Franzose. Chopin war Pole wiederholte ich – so wie vor zwei Jahren im Seminarraum in Aix en Provence.
Sie könnten sich jetzt fragen, warum ich über das, was Sie hier lesen, schreibe. Aber lesen Sie einfach weiter. Waren Sie jemals im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart? In dem neoklassizistischen Gebäude in der Nähe des Hauptbahnhofes, gibt es eine Ausstellung über Roy Lichtenstein und Robert Rauschenberg. Auch sollten Sie sich das große Porträt von Mao Zedong anschauen. Das Bild zieht die Aufmerksamkeit nicht nur aufgrund seiner Größe, sondern auch der Farbwahl auf sich. Sie wissen natürlich, dass Andy Warhol Urheber dieses Porträts ist. Aber haben Sie jemals über Warhols Herkunft nachgedacht? Andy Warhol hatte keinen slowakischen Namen, obwohl seine Eltern Andrey und Julia Varhol aus der Slowakei kamen und erst später nach Pittsburgh zogen.
Seine Wurzeln werden im Andy Warhol Museum of Modern Art in einer kleinen Stadt namens Medzilaborce im Osten der Slowakei, in der Warhols Eltern lebten, verortet. Das Museum präsentiert 160 Werke von Warhol – hauptsächlich Gemälde und Drucke.
Vielleicht wussten Sie auch noch nicht, dass Franz Kafka aus Tschechien kommt, obwohl er seine Bücher auf Deutsch schrieb. Er wurde geboren und begraben in der tschechischen Hauptstadt, obwohl er Prag hasste. Eine Statue erinnert an Kafka und eine Plakette vor seinem Elternhaus an seinen Geburtsort.
Vielleicht haben Sie auch noch nicht bemerkt, dass Miloš Forman Tscheche ist, denn er ist Regisseur vieler Filme mit nicht so tschechisch klingenden Titeln wie „Amadeus“ oder „The People vs. Larry Flynt“. Und so könnte ich immer weitermachen: Franz Liszt wurde in Ungarn geboren, ebenso wie der Philanthrop George Soros. Der ehemalige Hockeyspieler Stan Mikita kommt aus der Slowakei und der Autor Milan Kundera, der seine Bücher in französischer Sprache veröffentlicht, ist ebenfalls aus Tschechien.
Wir leben in Zeiten der Migration, suchen nach dem idealen Platz und Raum, aber zugleich sollten wir nicht vergessen, woher wir kommen und wer unsere Ahnen sind. Was wir brauchen, ist allein die richtige Balance.
Denisa Ballová
Dieser Text entstand im Rahmen des Projektes „Nahaufnahme“ des Goethe-Institutes. Für jeweils drei bis vier Wochen tauschen Kulturjournalistinnen und –journalisten aus Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Deutschland, Rumänien, Estland, Lettland und der Slowakei ihre Arbeitsplätze. Sie lernen den Arbeitsalltag in ihrem Gastland kennen und berichten über ihre Eindrücke vor Ort. Denisa Ballová verbringt derzeit drei Wochen in Berlin und Sarah Pepin hat für drei Wochen ihren Job bei der Tageszeitung DenníkN in Bratislava übernommen.
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